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Śantanu wartete geduldig, bis sein Sohn weiter sprechen würde. Er wusste, dass der junge Prinz, der inzwischen zum Mann gereift war, seine Worte mit Bedacht wählte und sich auch nicht hetzen ließ. Eine Geste würde verraten, wann er mit seiner Rede endete, und bis es soweit war, gebot es die Höflichkeit, dem jungen Krieger nicht ins Wort zu fallen, auch wenn die Spannung für Śantanu fast unerträglich wurde.
„O edler Diener Viṣṇus, du bist der Kaiser der Welt, und du bist mein Vater. Śrī Rāma hat uns gelehrt, dass es die vordringlichste Pflicht eines Sohnes ist, dem Wohl seines Vaters zu dienen. Am Tag der Inthronisation zum neuen Herrscher der Welt entsagte Prinz Rāmacandra allem Reichtum, allem Genuss und aller Macht. Ohne zu zögern war er bereit, das Wort und die Ehre seines Vaters, Mahārāja Daśaratha, zu achten. So begab er sich umgehend für vierzehn Jahre in den Wald von Daṇḍaka und erfüllte damit den Schwur seines Vaters.“
 
Bhīṣma machte erneut eine Pause. Er wollte jedes Wort genauestens bedenken und abwägen. Dies war zwar ohnehin sein gewöhnliches Herangehen an eine wichtige Angelegenheit, aber hier ging es um das Wohl seines Vaters und des ganzen Königreiches, ja um nicht mehr und nicht weniger als die Aufrechterhaltung des Dharmas. Er musste auf jeden Fall vermeiden, dass Śantanu aufgrund von Stolz oder Ehrgefühl oder weil er Bhīṣma zu sehr liebte, das Opfer der beiden Gelübde zurückwies.
 
Śantanus Augen ruhten auf Bhīṣma und spiegelten die unendliche Liebe wider, die er für den Göttersohn empfand. Śantanu spürte, dass sein Sohn etwas außergewöhnlich Wichtiges vortragen wollte. Aber er konnte noch immer nicht ahnen, worauf der Prinz hinauswollte. Diese Ungewissheit stachelte natürlich seine Neugier nur noch mehr an. Endlich fuhr Bhīṣma fort. Seine Stimme war zwar klar und deutlich, und auch nicht leise, doch vermied er es, so laut zu sprechen, dass alle in der Empfangshalle Anwesenden ihn hören konnten. Lediglich bei Rāmānuja, dem Hauptpriester Śantanus, und Diviratha, die beide wie immer hoch oben neben dem Thron standen, war er sich sicher, dass sie, wie leise er auch immer sprechen würde, jedes Wort verstanden.
 
Auf drei verschiedenen Ebenen wollte Bhīṣma seine Argumente präsentieren. Begonnen hatte er damit, darüber zu sprechen, dass es die höchste Pflicht eines Sohnes ist, seinem Vater zu dienen. Viṣṇu in seiner Form als Rāma hatte das vollkommene Beispiel gegeben: Das Dharma eines Sohnes besteht darin, unter allen Umständen die Anweisungen des Vaters zu erfüllen. Śantanu konnte also keinesfalls einen Fehler darin sehen, wenn Bhīṣma sich diese Gelübde auferlegte, denn diese waren ausschließlich zur Freude des Vaters bestimmt. Sein Sohn habe also lediglich, so Bhīṣmas Argument, sein Dharma erfüllt.
 
Nun wollte Bhīṣma sein zweites Argument unterbreiten. Dieses Argument zielte auf das Dharma Śantanus. „O Rājeśa, seit unvordenklichen Zeiten ist es die Pflicht der Kṣatriyas, dafür zu sorgen, dass die Menschen gemäß ihrem varṇa und āśrama ihr Leben gestalten. Dem Stand der Kṣatriyas obliegt es, von den Brāhmaṇas zu lernen und jedes Lebewesen so zu beschützen, dass es seinem zeitweiligen, irdischen Dharma nachgehen kann wie auch seinen ewigen, spirituellen Aufgaben. Die Veden helfen uns zu verstehen, wo unser Ursprung liegt, wie wir handeln sollen und wohin uns unsere Wege führen werden.
 
Die Stellung als Souverän des Volkes ist somit eine überaus verantwortungsvolle und schwierige. O Dharmajñā, du bist berühmt für deine Hingabe zu den Brāhmaṇas und deine profunde Kenntnis der Schriften. Du bist darüber hinaus auf der ganzen Welt dafür bekannt, dass du alle Opferdarbringungen achtest und es deinem Volk an nichts mangelt. Die Veden lehren uns, dass ein König eine Frau an seiner Seite wissen sollte, will er die ihm anvertrauten Pflichten frohen Herzens mit Leben füllen. 
 
Eine Königin spricht ihrem Gemahle Mut zu, sie ist eine Ratgeberin und eine entschlossene Kämpferin. Sie ist eine der sieben Mütter des Menschen und eine fürsorgliche Patronin für alle Lebewesen. Sie verziert das Heim mit Blumen, Düften, Möbeln und nicht zuletzt mit ihrer Anwesenheit. Aufmerksam achtet sie auf die Nöte ihres Volkes und bemüht sich, alle Ungerechtigkeiten im Königreich zu beseitigen. Mit ihrer Hingabe, Weisheit und ihrem Wohlwollen beschirmt sie alle Bürger vor den dreifachen Leiden des materiellen Daseins.
 
Doch auch für die Ausführung der vedischen yajñas sollte ein König eine Frau an seiner Seite wissen. Selbst Rāmacandra wollte während seiner Opferrituale nicht auf die Gegenwart Sītādevis verzichten und ließ ein lebensgroßes Abbild seiner ewigen Beigesellten anfertigen, das während der yajñas neben ihm thronte. Deshalb ist dein Entschluss, nach langer Zeit unserem Volk wieder eine Königin zu schenken, völlig in Übereinstimmung mit der Tradition und den Lehren der großen ṛṣis.“
 
Bhīṣma hatte während seiner Rede ausschließlich in das Gesicht Śantanus geschaut. Während er sich nun darauf vorbereitete, sein letztes Argument in die Waagschale zu werfen, ließ er seinen Blick auch über Matsyarāja und Satyavatī schweifen, so, als wolle er auch ihre Reaktionen ergründen. Vielleicht wollte er aber auch nur sichergehen, dass von den beiden keine Einwände erhoben würden, obwohl es für solch eine Befürchtung überhaupt keinen Anlass gab.
 
Der Fischer und seine Tochter hatten sich nicht gerührt oder irgendein Anzeichen gegeben, dass sie den Worten Bhīṣmas etwas hinzufügen wollten. Matsyarāja schaute meistens Bhīṣma an und nur ganz verstohlen und möglichst unauffällig auf Śantanu, und Satyavatī schaute schüchtern auf den Boden. Hin und wieder strich sie sich ihren Sari im Gesicht glatt oder zog ihn etwas tiefer. Fast hätte man meinen können, sie wirkte gelangweilt. Doch in Wahrheit hörte sie sehr aufmerksam zu; sie trank förmlich jedes Wort Bhīṣmas und achtete genauestens auf jede noch so kleine Nuance in seinem Tonfall.
 
Bhīṣma schaute in die Runde und noch einmal hoch zu Rāmānuja und Diviratha. Nichts deutete darauf hin, dass er nicht fortfahren solle oder sein Vorhaben nicht zum Erfolg führen würde. So machte er sich bereit für sein drittes Argument.
 
„Mein König“, fuhr Bhīṣma endlich fort, „du bist wahrlich ein Indra unter den Königen. Viṣṇu hat dich erwählt, über diese Erde zu herrschen. Durch das Befolgen der vedischen Anweisungen können wir den Rest unserer Verkettung in das materielle Dasein lösen und bald für alle Zeiten mit dem Herrn auf einem seiner Planeten vereint sein. Doch noch sind wir hier in der materiellen Welt. Noch wird unser ewiger spiritueller Körper von materiellen Bedingungen bedeckt und noch sind wir nicht frei von allen Wünschen nach irdischen Genüssen.
 
Um sicher durch die Strudel der materiellen Existenz zu gelangen, ist es hilfreich, eine keusche Frau an seiner Seite zu wissen. Die Frau des Königs ist eine wertvolle Hilfe in der Erfüllung der königlichen Wünsche und Begierden. Eine Königin gewährt ihrem Mann Zuflucht in einsamen Nächten. Eine Königin pflegt ihren Gatten, wenn er verwundet vom Schlachtfeld heimkehrt. Sie ist unverzichtbar, um einem Herrscher Erleichterung von seiner Last der Regierungsverantwortung zu verschaffen. Sie beruhigt seinen Geist, wenn sie, in feine Gewänder und süßliche Düfte gehüllt, ihrem Gatten ein mildes Lächeln schenkt. Wenn ein König am Abend in seine Gemächer zurückkehrt, nachdem er die Mühen des Tages bezwungen hat, nachdem er den Bedürftigen Hilfe angedeihen ließ und er seine Feinde bezwungen und Recht gesprochen hat, dann sehnt er sich nach einer Umarmung seiner geliebten Gattin und lauscht gern ihren wohlklingenden Worten.
 
Leidenschaft treibt das Lebewesen, die Freuden der körperlichen Liebe zu erkunden, und nur wenigen Asketen ist es vergönnt, den Verkündigungen wollüstiger Hingabe an einen anderen Körper zu widerstehen. Daher raten die großen Gelehrten und Heiligen, unsere Leidenschaft nicht aufzugeben, sondern nur zu zügeln, sie auf unsere Gattin zu richten, der wir treu und unerschütterlich dienen. So herrscht Friede in unserem Geist, Friede in der Familie und letztlich Friede auch in der gesamten Gesellschaft. Daher solltest du, ohne zu zögern, die schöne, gebildete, keusche und dir bereits völlig ergebene Tochter des ehrenwerten Fischers namens Matsyarāja ehelichen.“
 
Bhīṣma atmete tief durch und beobachtete seinen Vater sehr genau. Der ehrwürdige König war von den Worten seines geliebten Sohnes völlig überrumpelt und verfiel vor lauter Überraschung in eine alte Angewohnheit, über die er sich schon immer geärgert hatte – er stand da mit offenem Mund und war sprachlos. Bhīṣma wollte nicht lange warten, bis sein Vater einen Einwand vorbringen konnte und trachtete danach, das Ganze zu einem schnellen Sieg zu führen.
 
„O Rājendra, ich weiß, dass du Satyavatīs Hand in die deine legen willst. Ich weiß, dass du betrübt warst, als du von der Bedingung des Fischers hörtest und dir klar wurde, dass es nicht möglich sein würde, mit dieser liebenswerten Dame das heilige Feuer zu umkreisen. Aus Rücksicht auf mich wolltest du auf deinen Komfort und das Glück des Volkes verzichten. Doch erlöse mich von der Schande, dass ich es sein soll, der deinem Glück im Wege steht. Dazu haben mich die Himmlischen nicht erzogen. Dazu hat mich meine Mutter nicht auf die Erde gebracht. Gaṅgā, die von allen Lebewesen verehrt wird, ist stets allen Lebewesen wohlgesinnt. Als ihr Sohn ist es auch meine Aufgabe, den Menschen zu dienen, insbesondere meinem vorbildlichen Vater, der diese Erde vortrefflich regiert. So höre denn meinen Schwur!“
 
Bhīṣma hatte den letzten Satz so laut ausgesprochen, dass jeder der Anwesenden ihn hören musste. Er war stolz auf seinen Schwur und wollte ihn auch der Welt der Sterblichen verkünden, nachdem die himmlischen Welten schon überall davon erzählten. „Mein König, ich, der Sohn des Kaisers der Welt und Sohn der heiligen Gaṅgā, die ein jedes Lebewesen läutern kann, ich, Liebling Indras und Schüler Bṛhaspatis und Siddhantarājas, ich, Prinzregent Hastinās, habe dem Fischer Matsyarāja geschworen, dass ich für alle Zeiten auf den Thron Hastināpuras verzichte!
 
Der Sohn, den du mit Satyavatī zeugen wirst, soll allein der Thronerbe sein! Es gibt nichts in den drei Welten, was mich von meinem Schwur trennen könnte. So wisse denn, dass du die ehrenwerte Satyavatī ehelichen kannst. Nimm ihre Hand in die deine und führe sie vor den Altar. Möge Mukunda, der gütige Herr, der uns allen Befreiung schenken kann, diese Verbindung segnen.“
 
Śantanus Mund stand weiter offen. Er konnte weder ein Wort hervorbringen noch einen klaren Gedanken fassen. Er schwankte zwischen Bewunderung, ja Verehrung seines Sohnes einerseits und Verblüffung und Unsicherheit andererseits. Langsam regte sich auch ein zartes Gefühl der Vorfreude auf die Gemeinschaft mit der Fischerstochter in seinen Gemüt. Śantanu schossen die Tränen in die Augen und er legte seine Hand auf die Schulter des Prinzen.
 
Dieser kniete nun nieder und senkte den Kopf. Bhīṣma wusste, dass er auch seinen zweiten Schwur offenbaren musste. Śantanu würde sowieso schon bald davon hören. Das erste Wort, das Bhīṣma dem Fischer gegeben hatte, mochte noch verständlich sein, auch wenn solch heroischer Verzicht wahrhaftige Größe zeigte. Aber das Versprechen eines lebenslangen zölibatären Lebens würde Śantanu ebenso verblüffen wie entsetzen. Doch Śantanu musste beide Opfer seines Sohnes annehmen, nur dann würde Bhīṣmas Plan gelingen.
 
Bhīṣma kniete vor seinem geliebten Vater und spürte dessen Blicke, die Ordnung in den verwirrenden Neuigkeiten suchten. Beide fühlten sich in diesem Moment auf eine neue, noch innigere Art verbunden. Bhīṣma hob den Kopf und schaute seinem Vater in die Augen. Tief, fest, klar und unmissverständlich war die Stimme Gaṅgāsūtas. „So höre denn von meinem zweiten Schwur. Auch diesen lege ich dir zu Füßen, denn er soll dir zu Freude gereichen. Nimm ihn an und erfreue damit das Herz eines liebenden Sohnes. Stille die Begierde einer liebenden Frau. Ehre einen Bürger deines Landes, auch wenn er nur ein Fischer sein mag. Versetze dein Volk in Jubelstürme und folge dem Dharma aller großen Könige in unserer Dynastie. Doch vor allem anderen – erweise dir selbst einen wichtigen Dienst.
 
Die leidenschaftliche Vereinigung mit einer Frau ist ein Drang, dem nur wenige entsagen können. So wie die Lava eines Vulkans sich unkontrolliert und zerstörerisch ihren Weg aus dem Schlund des Berges sucht, wenn der Druck im Inneren einen Grad erreicht hat, dem der Berg nicht mehr widerstehen kann, so suchen sich die Kräfte körperlicher Begierde ihren Weg der Entlastung. Nur besonders erwählten Brāhmaṇas ist es gegönnt, diese Freuden mit der Glückseligkeit der Seele vollständig zu ersetzen.“
 
Bhīṣma hätte noch länger zu diesem Thema sprechen können, doch wurde er sich plötzlich gewahr, dass all seine Argumente dafür, dass Śantanu wieder heiraten sollte, ebenso, ja erst recht, verwendet werden könnten, um einem jungen Prinzen klarzumachen, dass ein Gelübde des lebenslangen Zölibats völlig unangebracht war. So entschloss sich Bhīṣma, ohne weitere Umschweife zur Sache zu kommen.
 
„O starkarmiger König, damit der Vater deiner zukünftigen Braut sicher sein kann, dass sein Enkel rechtmäßig Anspruch auf den Thron Hastināpuras erheben kann, habe ich nicht nur auf alle königlichen Weihen verzichtet. Ich habe darüber hinaus versprochen, dass auch keiner meiner Nachkommen jemals Anspruch auf die Krone erhebt. Deshalb habe ich folgenden Eid geleistet: Ich werde weder in den Stand der Ehe treten noch Nachkommen zeugen. Für den Rest dieses Lebens auf der Erde werde ich mich der Freuden, die Kāmadeva anbietet, enthalten!“
 
Bhīṣma fühlte sich erleichtert. Seine beiden Gelübde noch einmal auszusprechen, hatte ihn, sehr zu seiner eigenen Überraschung, erhebliche Kraft gekostet. Fast schien es ihm, als müsse er nicht nur die Welt, sondern auch noch einmal sich selbst von der Ernsthaftigkeit seiner Absichten überzeugen. Wahrscheinlich würde er nie wieder seine Schwüre öffentlich erneuern. Es herrschte vollkommene Stille in der Versammlungshalle. Nur von fern waren durch die geöffneten Fensterläden die Rufe einiger Reiter zu hören, die sich mit ihren Pferden in den Künsten der Kriegsführung übten.
 
Noch immer kniete Bhīṣma auf dem roten Teppich. Selbst in den Gesichtern von Matsyarāja und Satyavatī spiegelte sich Verwunderung, als ob sie zum ersten Mal von Bhīṣmas Eid hörten. Zu außergewöhnlich, zu schwerwiegend war Bhīṣmas Opfer. Śantanus Gesichtszüge spiegelten seine widerstreitenden Gefühle wider. Freude stritt mit Trauer, Begeisterung mit Entsetzen, Hoffnung mit Verzweiflung und Mitleid mit Unsicherheit. Sein Geist drehte sich im Kreis wie ein Wolf, das krampfhaft versucht, seine brennende Rute zu fassen. Unfähig, einen klaren Gedanken zu formulieren, glich seinem Gesicht eher einer Fratze, die ihr Erscheinungsbild ständig wechselte.
 
Mahārāja Śantanu räusperte sich. Als ob ihm gerade erst eine große Gefahr bewusst wurde, griff er seinem Sohn schnell unter den Arm und hob ihn vom Boden auf. „Deva! Bitte, du musst nicht vor mir knieen. Heute nicht und morgen nicht. Ich ..., ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich verstehe nicht, warum du ... Um Viṣṇus Willen, wie konntest du solche Gelübde auf dich nehmen? Ich bin dir sehr dankbar, aber ich kann das nicht annehmen. Nein, auf keinen Fall, es ist schlicht unmöglich. Dein Opfer ist zu groß für mich!“
 
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