Bhīṣma gab den beiden Torwächtern das von allen ersehnte Zeichen. Langsam bewegten sich die beiden Flügel des Tores nach innen und gaben den Blick auf und den Weg in die große Versammlungshalle frei. Das Tor maß in der Höhe mehr als drei Mannesgrößen und war aus massivem, dunklem Zedernholz gefertigt.
Der Rand der Torflügel war über die gesamte Länge mit tiefroten, fast violetten kleinen Muscheln besetzt und das umgebende Mauerwerk wurde täglich mit frischen, farbenfrohen Blumengirlanden verschönt.
In das Holz beider Flügel waren grüne und weiße Juwelen eingelassen, die jeweils das Wappentier der Kurus entstehen ließen – einen trompetenden Elefanten, der seine Vorderbeine leicht angehoben hatte. Wenn das Tor geschlossen war, schien es, als ob sich die beiden Elefanten an den Vorderbeinen und am Rüssel berührten und sich so gegenseitig stützten. Kurudvāra war breit genug, dass fünf Menschen bequem nebeneinander hindurch schreiten konnten, und die beiden alten Wächter brauchten daher ein paar Augenblicke, bis das schwere Tor endlich nachgab.
Bhīṣma, Satyavatī und Matsyarāja schritten, in dieser Reihenfolge und jeder auf seine eigene Art aufgeregt, durch das Tor über den roten Teppich, der direkt auf den Thron zulief. Da der Teppich nur für zwei Menschen nebeneinander breit genug war, gingen die Drei leicht versetzt und jeweils einen Schritt hinter dem anderen.
Mahārāja Śantanu sah seinen Gästen erwartungsvoll entgegen. Er konnte sich noch keinen Reim darauf machen, was diese überraschende Konstellation der drei Menschen bewirkt hatte. Seitdem Sunil vom Kommen des Trios berichtet und Diviratha die Worte des alten Dieners bestätigt hatte, schwankte der Herrscher Hastinās zwischen einerseits Vorfreude und Neugier und andererseits Zweifel und Verwirrung. Was sollte dies alles bedeuten? Was hatte Devavrata vor? War er vielleicht dem Fischer und seiner Tochter begegnet, als sie auf dem Weg nach Hastināpura waren? Wollte Matsyarāja seine Bedingung vielleicht mildern und gäbe es doch noch eine Möglichkeit, Satyavatī zu heiraten?
Mahārāja Śantanu erhob sich von seinem Thron. Er musste dies nicht tun, weder für seinen Sohn noch für einen Fischer und dessen Tochter, denn er war ihnen gegenüber der Höhergestellte. Menschen, die sich für einflussreich oder aus einem anderen Grund anderen gegenüber überlegen fühlen, behalten sich gern, und berechtigterweise, das Recht vor, sich zu erheben oder nicht. Doch Śantanu handhabte diese Etikette umgekehrt. Er hatte sich angewöhnt, jeden seiner Gäste zu respektieren und dies schon dadurch zu zeigen, dass er sich vor all seinen Besuchern erhob. Jedes einzelne Lebewesen verdient es, geschätzt zu werden. Jedes einzelne Lebewesen ist eine Seele, ein ewiger und ewig liebenswerter Bestandteil der höchsten Seele.
Zugegeben, einige seiner Gäste waren ihm ausgesprochen unsympathisch, manche gar unhöflich oder unverschämt. Dann kam es schon manchmal vor, dass er sich zwingen musste, Respekt zu zeigen. Er rief sich dann immer die Worte seines Vaters ins Gedächtnis: „Vergiss die verschiedenen Körper, in denen die Seelen stecken. Du erhebst dich in erster Linie vor dem ātmā und dem Paramātmā. Sie alle, ohne Ausnahme, waren, sind und werden es immer sein – spirituelle Funken, ātmā, göttliche Wesen, dafür bestimmt, zu lieben und geliebt zu werden.“
Doch auch ohne diese respektvolle Haltung hätte sich Śantanu natürlich sofort vor den Dreien erhoben. Schließlich kam sein Sohn, den er noch immer so sehr liebte wie seit dem ersten Tag, an dem er ihn am Ufer der Gaṅgā wieder traf. Und dieses betörend duftende Mädchen und ihr Vater, die Sunil und Diviratha angekündigt hatten, waren die Frau, um dessen Hand er angehalten hatte, und ihr Vater.
Doch Śantanu erhob sich nicht nur, sondern stieg eilig auch die achtzehn Stufen des Podestes herab, auf dem der Thron stand. Er ging schnurstracks auf seinen Sohn zu und umarmte ihn inniglich. Dann hieß er die beiden Gäste, die vor ihm knieten, aufzustehen. Er blieb vor den Dreien regungslos stehen und war froh, dass die Etikette erforderte, dass zuerst seine Untergebenen über ihr Anliegen zu sprechen hatten.
„Mein Vater“, begann Bhīṣma, wobei er langsam sprach und jedes Wort ungewöhnlich laut und deutlich betonte, „ich grüße dich. Ich hoffe, du hattest einen erholsamen Tag und hast voller Freude unseren allgütigen Herrn, Śrī Viṣṇu, verehrt. Ich bin sicher, du warst erfolgreich in deinen Bemühungen, den Kreislauf der Geburten und Tode zu durchbrechen. Ein Leben als Mensch wird erst nach vielen Geburten und Toden errungen und Śrī Nārāyaṇa hat dir nicht nur einen menschlichen Körper gewährt, sondern dir auch noch die Verantwortung für viele andere Menschen übertragen. So mögest du heute noch mehr Freude erfahren.
In den letzten Tagen habe ich eine Traurigkeit in deinem Wesen bemerkt und wollte deren Ursache ergründen. Mit Begeisterung habe ich vernommen, dass du wieder bereit bist, eine Frau anzunehmen und du sogar bereits eine Dame erwählt hast. Du begehrst Satyavatī zu deiner Frau, die Tochter Matsyarājas, und hast deshalb bei dem besten aller Fischer um ihre Hand angehalten.“
Der Prinz machte eine Pause. Er wollte die Reaktion seines Vaters sehen, konnte aber nicht mehr als Überraschung in seinem Gesicht lesen. „Ich kenne die Bedingung des Fischers und ich weiß über die Gründe deines Zögerns, ihm seinen Wunsch zu erfüllen. Aus Rücksicht auf mich hast du deinem starken Wunsch entsagt und ich danke dir für deine Liebe und deinen Respekt mir gegenüber. Lakṣmī muss mir sehr wohlgesonnen sein, dass sie mich mit einem Vater wie dir segnete.“ Bhīṣma musste sich räuspern. Seine Augen wurden feucht und er hatte für einen Moment etwas Mühe weiter zu sprechen.
Śantanu lächelte über das ganze Gesicht und legte seine Hand auf die rechte Schulter seines Sohnes. „O Devavrata, schöner Sohn der Gaṅgā, deine Worte ziemen sich für einen vorbildlichen Sohn wie dich. In der Hingabe zu deinem Vater gleichst du Rāmacandra und in deiner Güte erinnerst du an den großen Heiligen Vasiṣṭha. Was willst du mir sagen? Deine Tränen verraten, dass dich etwas bedrückt. Und warum hast du Satyavatī und Matsyarāja zu mir gebracht? Woher hast du überhaupt von ihnen erfahren? Sprich frei heraus mein Sohn, ich bin sehr neugierig, mehr von dir zu erfahren.“
Bhīṣma versuchte sich zu sammeln und atmete tief durch. Jetzt kam der Moment der Wahrheit. Bhīṣma hatte zwei Gelübde auf sich genommen und er wusste, dass er niemals von ihnen abrücken würde. Doch wenn sein Vater jetzt das Opfer seines Verzichts nicht annehmen würde, dann wäre sein Opfer nicht vollkommen, dann wäre sein Verzicht nicht nur unvollständig gewesen, sondern auch unsinnig. Mehr noch – sein Opfer wäre sogar gefährlich. Denn wer sollte dann Hastinā und die ganze Welt regieren?
Für einen winzigen Augenblick schossen ihm Bilder durch den Kopf, die ihm zeigten, wie eine Gesellschaft aussehen könnte, die ihres aufrechten Herrschers beraubt ist. Er sah unbestellte Felder und hungernde Menschen. Er sah marodierende Horden, die brandschatzten und plünderten. Er sah Frauen, die nicht mehr beschützt wurden und Kinder, die als Waisen aufwuchsen. Er sah Priester und Gelehrte, die ihr Wissen nicht mehr weitergeben wollten und die dem Volk aufzuzwingen versuchten, dass es nur an eine einzige Religion zu glauben habe. Die öffentlichen Streitgespräche waren abgeschafft, die Tempel zu einem Hort des Einkommens für die Priester verkommen, Pilger wurden nach der Höhe ihrer Spenden behandelt und die Menschen traten nur noch vor die Altäre, um ihren materiellen Genuss gestillt zu sehen.
Menschen verschlossen ihre Haustüren aus Angst vor Dieben, Liebespaare scheuten die Parks und Haine, Kinder respektierten ihre Eltern nicht mehr und Brüder erschlugen ihre Brüder. Tiere wurden gezüchtet, um sie zu essen, selbst Kühe wurden geschlachtet und verzehrt. Die Kṣatriyas folgten den Weisungen der Brāhmaṇas nicht, die Vaiśyas missachteten die Kṣatriyas und Brāhmaṇas, und die Śūdras folgten niemandem mehr. Die Feueropfer wurden eingestellt, Wohltätigkeit wurde eine seltene Tugend und Ehrlichkeit und Sauberkeit wurden unwichtig.
Diebe und Räuber terrorisierten die Menschen und das Land wurde ständig von Wirbelstürmen, Dürren oder Überschwemmungen heimgesucht. Die vedischen Schriften wurden weder gelesen, gelehrt noch vorgetragen; Tempel verfielen und die Götter verweigerten ihre Segnungen. Die Lebensdauer, körperliche Stärke und die Intelligenz der Menschen nahmen rapide ab und Betrug, Lügen und Gewalt wurden zu einem alltäglichen Ereignis. Angst, Intoleranz und Egoismus wurden zu einem untrennbaren Bestandteil des Lebens.
Richter ließen sich bestechen, Eltern gaben ihren Kindern kein leuchtendes Beispiel mehr, Lehrer interessierten sich nicht mehr für ihre Schüler und Schüler verloren den Respekt vor ihren Lehrern. Streit und Krieg bestimmten den Tag der Menschen und selbst aus nichtigsten Anlässen gab es groß angelegte Auseinandersetzungen. Die Menschen verloren ihr Wissen um die Zusammenhänge im Universum und ihre Hingabe zum Herrn. Das Befolgen religiöser Traditionen wurde eine Frage der jeweiligen Laune der Menschen und ihr höchstes Gut war die stete und vollkommene Zufriedenstellung ihrer Sinne.
Königreiche zerbrachen an Kleinstaaterei, Familien zerbrachen an Untreue und Menschen zerbrachen am Egoismus der Mitmenschen. Das Wissen um die heilenden Kräfte der Natur und der eigenen Psyche ging verloren und wurde durch künstliche Drogen und Maschinen ersetzt. Die Menschen verloren die Fähigkeit, miteinander zu sprechen und sich auszutauschen, und suchten ihr Heil in isolierter Zerstreuung. Das eigene Gewissen schrumpfte und die Angst vor dem Verlust der letzten Habseligkeiten führte zu Aufständen und der Hingabe zu Despoten und Tyrannen.
Alle diese Schreckensbilder tauchten vor Bhīṣma auf und ihm lief ein Schauer des Entsetzens über den Rücken. Könnte es tatsächlich möglich sein, dass aus seinem hehren Verzicht eine solch abscheuliche Zukunft erwuchs? Könnte es sein, dass einem Akt der Entsagung königlicher Genüsse Zerfall, Zerstörung und Vernichtung des Dharma auf dem Fuße folgte? Bhīṣma war entschlossener denn je, seinen Vater zur Ehelichung Satyavatīs zu drängen.