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Zehn Menschen befanden sich in der Versammlungshalle: Vier Mitglieder der Leibgarde, die sich jeweils rechts und links neben der Empore für den Herrscherthron und neben dem Eingangstor befanden, Diviratha, einer der zehn Generäle der Streitkräfte, der Hauptpriester des Königs Rāmānuja, eine Fischerstochter, ein Fischer, ein Königssohn und ein König. 
Alle verharrten in Stille. Acht von ihnen waren so sehr von dem ergriffen, was sie in den letzten Augenblicken gehört hatten, dass sie kaum zu atmen wagten. Deshalb fielen Rāmānujas und Bhīṣmas Atemgeräusche, die zwar keineswegs auffällig laut waren, trotzdem besonders auf.
 
Śantanu empfing den flehenden Blick seines Sohnes und es war ihm, als müsse er innerlich verbrennen. Er sah, wie sich sein Sohn quälte. Er sah, wie sein Sohn den Kopf neigte, als würde er sich auf einen Kampf vorbereiten. Er sah, wie sich sein Sohn für ihn aufopfern wollte. Doch bei aller Entschlossenheit seines Sohnes konnte er doch niemals dessen Aufopferung widerspruchslos hinnehmen. Nein, das wäre nicht rechtens gewesen. Er konnte nicht zulassen, dass die Zukunft seines Sohnes zerstört würde, und dies darüber hinaus ausgerechnet von dessen eigenem Vater!
 
„Deva, mein Junge, edler Prinz, verstehe doch – ich kann dein Opfer nicht annehmen. Zwar ist alles wahr, was du gesagt hast, doch stehen all die Freuden, die du aufgezählt hast, auch dir zu. Mehr noch, sie stehen erst recht dir zu. Du stehst noch am Anfang eines langen Lebens, ich dagegen habe bereits einen großen Teil hinter mir. Natürlich würde ich sofort Satyavatī ehelichen, wenn ich die Wahl hätte. Ich weiß, sie wird mir eine hingegebene Frau sein. Und sie kann sich darauf verlassen, dass ich ihr ein liebender und treu sorgender Mann wäre. Es würde ihr an nichts fehlen und sie würde meine restlichen Tage in diesem Körper zweifellos verschönern.
 
Und auch unser Volk würde sich über eine solch schöne, gebildete und warmherzige Königin freuen. All dies ist richtig. Und natürlich verlangen unsere jahrtausendealten yajñas und Zeremonien auch nach einer Frau an meiner Seite. Doch all dies trifft dich ebenso wie mich. Eines Tages sollst du das Zepter übernehmen und auf dem Herrschersitz Hastinās thronen. Du bist mein rechtmäßiger Nachfolger. Wie soll ich den Brāhmaṇas erklären, dass du mich nicht beerben wirst? Wie soll ich das dem Volk erklären? Es liebt dich schon jetzt so sehr, wie  damals die Einwohner Ayodhyās ihren Landesherren liebten. Wir soll ich das den anderen Königen erklären, die jeden Tag auf meine Boten warten, die sie endlich für das große Fest deiner Inthronisation einladen? Und wie soll ich das deiner Mutter erklären? Und wie ...?“
 
Bhīṣma hob abwehrend die Hand und versuchte seinen Vater zu beschwichtigen. In einem ruhigen Ton wandte er ein: „Du bist Mahārāja Śantanu, du bist der Kaiser der Welt, du kannst es erklären. Abgesehen davon musst du es nicht erklären. Dein Wort ist Gesetz. Ich will ja nicht das Königreich verlassen und mich in den Himalaya begeben. Ich werde auch weiterhin mit meinem Leben unser Land verteidigen. Ich werde auch weiterhin in Treue jedem Feind unseres Volkes an der Seite meines Königs entschlossen entgegentreten. Aber ich werde nicht die königlichen Insignien tragen. Warum solltest du das den Menschen nicht erklären können?“
 
Śantanu drehte seinen Kopf zur Seite, fuchtelte mit seinen Armen, als müsse er eine lästige Fliege verscheuchen, und entgegnete etwas unwirsch: „Ja, ich bin der Kaiser. Das weiß ich. Doch selbst wenn deine Absichten überaus ehrenswert sind, so gehört es doch nicht zu meinem Dharma, dass mein Sohn auf sein Glück verzichten soll, nur damit ich meine Leidenschaften stille!“ Śantanus Ton wurde zunehmend aggressiver. „Dies gehört nicht zum Dharma eines Königs! Hat sich Rāma etwa auf Kosten seines Volkes auf königliche Freuden gestürzt? Das Bestreben eines Menschen sollte sein, den anderen Lebewesen zu dienen. Er sollte sich nicht an ihnen bereichern. Wenn alle Menschen lieber dem anderen dienen, lieber dem anderen von ihrem Glück und Reichtum geben, als vom Reichtum des anderen zu nehmen, dann haben wir die himmlischen Planeten auf Erden. Dann gibt es überhaupt keinen Grund, nach Svargaloka gehen zu wollen. 
 
Und neben den Brāhmaṇas ist der König derjenige, der als Erster mit gutem Beispiel voranzugehen hat. Wenn er fehlt und sich den Privilegien der Regierungsherrschaft ergibt, ist nicht nur er verdammt, sondern sein gesamtes Königreich. Wie kannst du erwarten, dass ich frohen Herzens mit einer Frau zusammen lebe, wenn ich dich dafür leiden sehen muss. Das würdest auch du an meiner Stelle nicht hinnehmen.“
 
Śantanu bemerkte, wie sich seine Stimme fast überschlug und in der hohen und weiten Versammlungshalle härter widerklang, als er selbst es wollte. Doch ehe er fortfahren konnte, unterbrach ihn erneut Bhīṣma. „Aber ich bin dein Sohn, und du bist mein Vater. Ich bin der Prinzregent, und du bist der Kaiser. Darin liegt ein großer Unterschied. Ein Vater kann das Opfer seines Sohnes annehmen. Opferte sich nicht Rāmacandra für das Wohl seines Vaters? War nicht genau dies der Grund für sein Erscheinen auf der Erde? Rāma wollte zeigen, dass ein Sohn bereit sein sollte, alles für seinen Vater zu opfern. Śrī Rāma nahm das Gelübde einer vierzehnjährigen Verbannung auf sich. Missachtete er nicht jede königliche Freude, wenn es darum ging, das Wort und die Ehre seines Vaters zu ehren?
 
Der vorbildliche Rāma hat gelehrt, dass ein Sohn sogar bereit sein sollte, sein Leben zu geben, um seinem Vater zu dienen. Hat nicht auch der große ṛṣi Viśvāmitra dies von seinen Söhnen erwartet? Hat nicht Paraśurāma sein Leben zu Füßen seines Vaters Jamadagni gelegt? Hat nicht Prahlāda Mahārāja sogar riskiert, von seinem Vater getötet zu werden, nur weil er auf das Wohl seines Vaters bedacht war? Wahrlich, es gibt noch viel mehr Beispiele großer Heiliger und Könige. Doch allein das Beispiel Rāmas hat uns gezeigt, dass ein Sohn bereit sein sollte, das Glück seines Vaters als das höchste Gut im Leben anzusehen.“
 
Auch wenn Śantanu noch immer regungslos vor seinen drei Besuchern stand, wand er sich innerlich wie eine unbändige Schlange, die verzweifelt versucht, einer tödlichen Umklammerung zu entfliehen. Wenngleich Śantanu zugeben musste, dass sein Widerstand allmählich nachließ, so war er aber noch immer nicht bereit, einzulenken. Würde ihn nicht jeden Tag, wenn er die neue Königin betrachtete, ein schlechtes Gewissen plagen? 
 
„Deva“, begann Śantanu erneut und seine Stimme hatte wieder den alten, gütigen, warmen und sonoren Klang, „ich mag ja vielleicht in dein erstes Gelübde einschlagen. Du könntest deinen Bruder ausbilden und im Kampfe unterstützen. Du könntest am Hofe bleiben und Oberbefehlshaber der Armee werden. Sicherlich, du hast recht, du kannst deine Kampfkünste zeigen, auch ohne König zu sein. Darin mögen die Gelehrten und mein Volk nichts Anstößiges finden. Aber was ist mit deinem zweiten Schwur? Wie soll ich deine Ehelosigkeit fordern, um meiner nächtlichen Lust zu frönen! Wie kann ich verlangen, dass du für den Rest deines Lebens auf die Freuden der Gemeinschaft mit einer Frau verzichtest, damit ich für den Rest meines Lebens eben jene Freuden genießen darf!
 
Folge ich damit dem Pfad meiner Ahnen? Gewiss nicht. Und gebe ich damit den kommenden Generationen ein leuchtendes Beispiel? Gewiss nicht. Würde deine verehrungswürdige Mutter dem zustimmen? Gewiss nicht. So sehr ich deine Demut und Opferbereitschaft schätze, so glaube ich doch nicht, dass meine Vermählung auf Kosten deiner Zukunft das ist, was die Götter und mein Dharma von mir verlangen. Deva, ich bin mir sicher, dass du das verstehst.“
 
Bhīṣma wusste, dass es nun an der Zeit war, die ganze Wahrheit zu offenbaren. Als er vor gut fünf Jahren die himmlischen Planeten verließ um zu seinem Vater zurückzukehren, hatte Gaṅgā nicht alle Details aus der Geschichte der Acht Vasus und Vasiṣṭhas verraten. Sie hatte es ihrem Sohn überlassen, diesen nicht unbedeutenden Teil erst dann zu offenbaren, wenn er selbst es wollte. Und heute schien der Tag dafür gekommen.
 
„Mag sein, dass diese beiden Gelübde außergewöhnlich sind“, begann Bhīṣma bedächtig. „Wahrscheinlich ist dies der Grund, warum die Himmelsbewohner mich mit dem Namen ‚Bhīṣma’ bedachten. Und es mag sein, dass die Götter diese Opfer weder von dir noch von mir verlangen. Doch der große Vasiṣṭha erwartet die Erfüllung seines Fluches. Denn als wir unser Karma für das Stehlen seiner Kuh entgegennehmen mussten, lautete sein Spruch nicht nur, dass die Vasus auf der Erde Geburt nehmen müssen und dass ich für lange Zeit auf dieser Erde zu verweilen habe. Nein, seine Lektion für mich war noch eindringlicher.“
 
Bhīṣma fiel es nicht leicht, über seine damalige Verfehlung zu sprechen, und so wurde sein Ton, ohne dass er sich dessen bewusst war, etwas leiser. Neun Augenpaare waren voller Neugier auf Bhīṣma gerichtet, einige offen und unverhohlen, andere schüchtern und leicht gen Boden gerichtet. Bhīṣma war sich völlig im Klaren darüber, dass es jetzt galt, Śantanu davon zu überzeugen, dass es im Sinne aller, und vor allem im Sinne Gaṅgās war, das Opfer des Königssohnes anzunehmen. 
 
„Mein Vater, so höre denn, was der unfehlbare Vasiṣṭha mir mit auf meinen Weg in das nächste Leben gab. Er bestimmte nicht nur ein langes Leben für mich, sondern er verfluchte mich auch dazu, dass mir die Freuden der Gemeinschaft mit einer Gemahlin nicht vergönnt sein sollten. Dies war der gerechte Lohn für meine Missetat, denn schließlich hatte ich sie nicht nur aus Langeweile und jugendlichem Übermut verübt, sondern vor allem, um meiner Frau einen Gefallen zu tun. Ich hätte meinen Trieben nicht so leichtfertig nachgeben sollen und hätte besser auf meine feiste Prahlerei verzichtet. Nun muss ich die Früchte meiner Handlungen ernten.
 
O Gatte Gaṅgās, wie du siehst, wäre mir ein trautes Glück mit vielen Ehefrauen und dieser Art von königlichem Pomp, wie er für Kṣatriyas im Allgemeinen üblich ist, sowieso nicht vergönnt gewesen. So nimm denn meine Opfer an, denn so führen diese wenigstens noch zu einem angenehmen Zustand für andere. Sei nicht betrübt ob meiner Ehelosigkeit. Satyavatī wird dir würdige Söhne schenken, darüber besteht kein Zweifel. Und du musst auch nicht befürchten, dass ich Hastināpura verlasse und mich in die Einsamkeit der Wälder zurückziehe, um mir Enthaltungen aufzuerlegen. Wahrlich, mein Platz ist an deiner Seite und an der Seite meiner Brüder und aller kommenden Könige in Hastināpura.“
 
Bhīṣmas Stimme war wieder fest und klar und deutlich vernehmbar. Als er seine Rede beendet hatte, herrschte völlige Stille. Niemand sprach ein Wort oder wagte es, sich zu bewegen. Langsam und unverabredet wandten sich alle Blicke Śantanu zu. Dieser fühlte sich noch immer wie vor den Kopf geschlagen. Die Worte des Prinzen schienen nicht zu verklingen, sondern vielmehr wieder und immer wieder von den marmornen Wänden zurück zu prallen. „Ehelosigkeit ... Vasiṣṭha ... würdige Söhne ... Gatte Gaṅgās ... einsame Wälder ... an der Seite meiner Brüder ... Satyavatī.“
 
Mahārāja Śantanu schaute voller Bewunderung auf seinen Sohn. „Mein Deva“, dachte der König, „mein armer Deva! Was für eine Bürde wurde dir auferlegt! Was für eine harte Strafe musst du von dem berühmten Vasiṣṭha ertragen. Ich kann die Handlungen dieses Heiligen nicht in Frage stellen, schließlich hat er schon Mahārāja Daśaratha, den König Ayodhyās, beraten. Trotzdem ist das Ausmaß dieses Fluches ungewöhnlich. Ich glaube, da steckt noch etwas anderes dahinter. Vasiṣṭhas Fluch muss noch irgendeinem anderen Zweck dienen. Wie dem auch sei, ich muss eine Entscheidung fällen.“
 
An seinen letzten Gedanken anknüpfend, ergriff Śantanu das Wort, nachdem er sich zwei Mal geräuspert hatte. „Mein Sohn, o bester der vorbildlichen Monarchen, du hast mir nun auch den Rest von der Begebenheit mit Vasiṣṭha offenbart. O Devavrata, die Götter haben dir mit Recht einen außergewöhnlichen Namen gegeben. Von heute an wirst du als Bhīṣma bekannt sein. Noch in Tausenden von Jahren wird man deinen Ruhm verkünden und deinem hehren Beispiel huldigen!
 
Deine Gelübde und deine Opfer sind einzigartig und verdienen unser aller Respekt. Du hast nicht nur auf die königlichen Weihen verzichtet, sondern auch auf königliche Freuden. Du hast mich nicht nur mit deiner Gegenwart gesegnet, sondern auch mit einer neuen Königin an meiner Seite. Ja, ich nehme deine Opfer an! Doch auch du sollst eine Segnung erhalten. So höre du nun von mir, was ich der Welt zu verkünden habe.“
 
 
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