Und Devavrata empfing noch eine andere Ahnung. Einerseits deutlich wahrnehmbar, doch andererseits nicht greifbar, spürte er in sich eine Liebe ruhen, eine Liebe, die nur für eine einzige Person bestimmt war. Er wusste selbst noch nicht, für wen. Mit philosophischer Überlegung wäre der junge Prinz wahrscheinlich in der Lage gewesen, die Person zu nennen, die das höchste Objekt seiner Begierde sein musste.
Er hätte es geschmeidig begründen und mit vielen ślokas aus den Veden belegen können. Aber nicht im Entferntesten hätte er erahnen können, wie viel Liebe er eines Tages tatsächlich für diese Person empfinden würde, und mehr noch – dass er eines Tages dieser Person von Angesicht zu Angesicht gegenüber stehen würde.
Und noch weniger hätte er sich vorstellen können, dass diese Person eines Tages in einer gewaltigen Schlacht ein Wagenrad gegen ihn erheben wird. Die gleiche Person, die er mehr lieben wird, als alles andere auf dieser Welt, wird eines Tages auf ihn zustürmen und ihn töten wollen. Devavrata wusste viel über das Universum, sehr viel. Er kannte sogar seine beiden vorhergehenden Leben. Doch diesen Teil seiner Zukunft kannte er nicht.
Der Prinz, der inzwischen fast nur noch Mann und kaum noch Knabe war, schaute seinem Vater in die Augen. Er bedauerte, dass er den weisen Śastragupta vermutlich nie mehr treffen würde. Und er hätte, genau wie Śantanu, zu gern gewusst, welchen Wald und welchen Kuhhirtenjungen der ehrwürdige Brāhmaṇa gemeint hatte.
Und so sprach er zu seinem Vater Worte der Ermutigung, die wahr und klar waren, mit denen er sich aber vor allem selbst beruhigte. „Sicherlich hat dein alter Ratgeber Recht, und eines Tages wirst du dies alles verstehen. Paramātmā wird dir alles Wissen geben, das du benötigst. Du weißt ja, wie es Viṣṇu erklärt:
Von mir entspringt das Sich-Erinnern,
das fleißig’ Reden, Zukunftbauen.
Ich verfasse alle Veden,
durch mich kannst du sie wahrhaft schauen.
Asura, Nāga, Mensch und Deva,
sie hilflos ihre Kreise zieh’n
vom Wurm bis hin zu Mahādeva
Vergessen lässt ihr altes Leben flieh’n.
Dem Karma kannst du nicht entkommen,
niemand stoppt das Rad der Zeit.
Ob du erinnerst, planst, ob handelst,
ich leite dich, in alle Ewigkeit.
Weißt du, Rājeśvara, ich hatte einen Lehrer namens Siddhantarāja. Er hat mir oft geraten, ich solle geduldig sein, ich solle aufmerksam sein und auf meine innere Stimme hören. Wie oft hat er mir versichert, dass ich die Zeichen Paramātmās schon erkennen würde. Ich müsse nur genau genug hinschauen.
Er gab mir auch einen Tipp. Er meinte, dass der allererste Gedanke, den ich habe, das Erste, was mir durch den Kopf geht, meist eine Inspiration Paramātmās sei. Natürlich sollte ich nicht außer Acht lassen, was ich aus den Veden und von den Gelehrten gelernt hatte, aber dieser erste Gedankenblitz sei oft eine Eingebung des Herrn, der im Herzen eines jeden Lebewesens weilt und dort auf einer Lotosblume steht.“
Śantanu schaute auf und fragte verblüfft: „Er steht auf der Lotosblume? Ich dachte, er sitzt im Herzen. Bist du sicher, dass er steht?“ Devavrata nickte. „Klar bin ich sicher. Obwohl Paramātmā natürlich völlig transzendental ist und er gewissermaßen auch sitzt, wenn er steht. Es ist ein bisschen kompliziert. Aber wenn der Yogi den lokalisierten Aspekt der Absoluten Wahrheit erkennt, dann sieht er, dass Paramātmā steht. Aber apropos sicher. Mir fällt da eine Geschichte ein.
So wie du einst in deiner Kindheit vor dem großen Śastragupta standest, so ähnlich erging es mir einmal mit Siddhantarāja. Auch er liebte dieses Frage-und-Antwort-Spiel. Es ist eine einfache Botschaft in der Geschichte, die ich dir erzählen möchte, aber wer immer diesen kleinen Punkt versteht, hat sein Leben bereits zur Vollkommenheit geführt.
Eines Tages also, es war noch früh am Morgen und die Sonne erklomm gerade erst den Horizont, fragte mich der Weise vor versammelter Klasse, nachdem wir die tausend Namen Viṣṇus gesungen hatten:
‚Gaṅgākumāra, wie viele Hände hast du?’
‚Zwei.’
‚Bist du sicher?’
‚Klar.’
‚Und wie viele Hände hat Viṣṇu?’
‚Vier.’
‚Bist du sicher?’
‚Vier... manchmal. Und manchmal noch mehr.’
‚Wie viele Hände hat er denn nun?’, fragte mein Guru belustigt, und einige der anderen Schüler kicherten schon.
‚Unzählige.’
‚Richtig. Wenn er dir etwas wegnehmen will mit seinen unzähligen Händen, wie lange kannst du es wohl beschützen?’
‚Nicht sehr lange. Er hat ja viel mehr Arme als ich.’
‚So ist es. War das schwer zu verstehen?’
‚Nein, das war leicht.’
‚Gut. Aber jetzt kommt eine schwerere Frage, jüngster Sohn der Gaṅgā. Bist du bereit?’
‚Mein Guru, ich bin bereit.’
‚Wie viele Hände hast du?’
‚Zwei.’
‚Bist du sicher?’
‚Klar bin ich sicher.’
‚Und wie viele Hände hat Viṣṇu?’
‚Vier... nein, unzählige.’ Und ich ärgerte mich, dass ich noch einmal in die gleiche Falle getappt war und die anderen śiṣyas wieder kicherten und prusteten.
‚Bist du sicher?’
‚Klar, absolut sicher.’
‚Gut. Wenn Viṣṇu dir etwas geben will mit seinen unzähligen Händen, wie viel kannst du wohl davon annehmen?’
‚Nicht viel. Ich habe ja nur zwei Hände.’
‚So ist es. War das schwer zu verstehen?’
‚Nein, das war kinderleicht.’
‚Ja, wie Recht du hast, schlauer Devavrata. Es ist kinderleicht zu verstehen.’
Und dann erzählte er uns von Menschen, die es trotzdem nicht verstehen können. Menschen, die zum Beispiel auf der Erde leben. Diese Menschen mögen belesen, intelligent und guten Herzens sein, doch falle es ihnen trotzdem schwer, einfachste Sachverhalte zu erkennen. Er sprach sogar davon, dass es Wesen gäbe, die behaupten, dass Viṣṇu nicht einmal existieren würde! Ich verstand damals gar nicht, was er damit meinte, aber wir beide wissen, dass es tatsächlich solche Menschen gibt.“
Ja, Śantanu wusste, wovon sein Sohn sprach. Er selbst hatte es in seinem Königreich bisher erfolgreich verhindern können, aber in anderen Königreichen hatten einige Unsitten wohl schon hier und da Einzug gehalten. Menschen überschritten die Grenzen ihrer varṇas und āśramas, sie frönten dem Glücksspiel, berauschten sich ungehemmt und das Schlimmste von allem – sie begannen massenhaft Tiere zu töten, um sie zu essen.
Śantanu wusste, dass dies die Vorboten des gefürchteten Kali-yugas waren, des Zeitalters des Streites und der Heuchelei. Er wusste, dass alles, was er bisher gehört hatte, erst der Beginn des Verfalls der Moral und der Sitten war. Wenn das Kali-yuga erst einmal richtig begonnen hatte, würden Angst, Betrug, Gottlosigkeit und Gewalt die Gesellschaft durchziehen.
Dörfer würden mehr und mehr verschwinden, weil es die Menschen in die Städte zieht, da sie Leidenschaft der Tugend vorziehen. Familien würden zerbrechen und manche Kinder schon glücklich sein, dass sie zwei sorgende Elternteile hätten, von Großeltern, Geschwistern, Onkeln und Tanten ganz zu schweigen. Menschen würden den Planeten abholzen, aufgraben, durchbohren, Land, Wasser und Luft vergiften. Sie würden sich mit Maschinen umgeben und eine schlechte Intelligenz zeigen. Unschuldige Tiere würden sie zu Millionen täglich abschlachten, um den Drängen ihrer Zunge nachzugeben. Die religiösen und politischen Führer würden mehr an ihrer eigenen Macht interessiert sein als an der Erleuchtung ihrer Anvertrauten, und Eltern würden ihre Kinder verkaufen, vernachlässigen oder gar verhungern lassen.
Er hoffte, dass er im Kali-yuga nicht mehr auf diesem Planeten leben müsste. Allein der Gedanke, mit ansehen zu müssen, wie Viṣṇus schöne Schöpfung missbraucht wird, verursachte ihm Schmerzen, ganz zu schweigen davon, dass er selbst Zeuge sein müsste. Er vertraute darauf, dass Viṣṇu ihn bis dahin an einen anderen Ort versetzen würde.
Das Gespräch hatte sich zu einem unerfreulichen Thema begeben und sich somit aller Begeisterung entledigt. Śantanu hörte das Schnauben der Pferde und ihm wurde plötzlich klar, dass seine Diener schon lange bereit waren, den Heimweg anzutreten. Die Pferde waren angespannt, der Wagen gewaschen und poliert und der Kutscher schon aufgesessen.
Sunil und sein junger Gehilfe Kapildev, die anscheinend irgendwie miteinander verwandt waren, standen schon lange nicht mehr abseits unter den Schatten spendenden Bäumen, sondern ganz in der Nähe. Nicht so nah, dass es aufdringlich gewirkt hätte oder man vermuten könnte, sie wollten das Gespräch der Königlichen belauschen, aber doch so nah, dass man sie leicht bemerken würde.
Śantanu ergriff das Heft des Handelns. „Deva, lass uns aufbrechen. Ich danke dir für deine Zeit und die lehrreichen Geschichten. Es wird Zeit für die abendlichen Riten, und es wird Zeit für deine heiße Milch.“ Śantanu tat so, als würde er sich bemühen, den letzten Satz völlig emotionslos auszusprechen. Aber er hatte seinen Sohn schon so oft mit dieser abendlichen Angewohnheit geneckt, dass der Schalk nicht zu verbergen war.
„Was hast du nur immer mit dieser Milch“, beschwerte sich der Prinz. „Auch wenn auf der Erde meist nur kleine Kinder abends heiße Milch trinken, musst du mich nicht immer damit aufziehen. Wenn ihr nicht wisst, was gut für euch ist, dann ist das nicht mein Problem. Kein Wunder, dass dieser Planet ‚Ort des Todes’ genannt wird. Ihr mit euren einhundert oder bestenfalls zweihundert Jahren Lebensspanne! Das ist nicht einmal so lang wie ein Blitz in der Ewigkeit.“
Śantanu hatte nicht das Geringste dagegen, dass sein Sohn jeden Abend heiße Milch trank. Er wusste sogar, dass viele in seinem Königreich ähnliche Angewohnheiten hatten und dass auch die königlichen Ärzte ihm dazu geraten hatten, besonders wenn die Milch so zubereitet war, wie Devavrata es verlangte. Aber das hatte er seinem Sohn natürlich nie verraten. Denn der Prinz war in so vielen Bereichen vorbildlich, dass solch eine scheinbare Schwachstelle dem König wenigstens eine kleine Angriffsfläche bot.
„Schon gut, geliebter Sohn der Gaṅgā“, beruhigte der Herrscher der Erde, „ich werde heute selbst einen großen Becher deines Zaubertrankes zu mir nehmen. Falls du denn gewillt bist, dein köstliches Getränk mit mir zu teilen.“ Śantanu hatte den Arm um Devavratas Schultern gelegt und gemeinsam schritten sie zurück zum Wagen.
Erst als beide Platz genommen hatten und sich der Wagen langsam in Bewegung setzte, knüpfte Devavrata an Śantanus letzten Satz an. „Das werde ich mir gut überlegen müssen. Das hängt davon ab, wie viel des weißen Goldes deine vielarmigen Köche für mich zubereitet haben, Kacorimukha. Aber es könnte, vielleicht, sein, dass möglicherweise, eventuell, ohne, dass ich sicher sein kann, auch für dich, unter gewissen Umständen und ohne dass ich etwas versprechen will, noch etwas übrig bleibt.“
Devavrata wusste nur zu gut, wie sein Vater es hasste, Sätze hören zu müssen, die von Konjunktiven wimmelten. Śantanu verschoss wieder einen imaginären Pfeil, aber Devavrata wollte diesmal nicht getroffen werden. Er riss seinen Arm hoch, als wäre er beschildet, und schaute dann hinter seinem Schild hervor. Den nicht vorhandenen Pfeil begutachtend, wie er noch im nicht vorhandenen Schild steckte, bemerkte er etwas spöttisch: „Ich glaube, du brauchst Pfeile mit besserer Durchschlagskraft, o König, der du schon lange regierst.“ – „Und ich glaube, Kṣiramukha, du bist ein großes Kind und brauchst ein kaltes Bad, o Königssohn, der du noch nie regiert hast.“
Devavrata schmunzelte. Auch er freute sich über jeden, wenn auch noch so kleinen, Ansatzpunkt, um seinen Vater ein bisschen zu ärgern. „Warum so gereizt, bester unter den Großmütigen? Kacorigesicht scheint dir nicht zu schmecken, ist aber sehr treffend. Und Kṣiramukha nehme ich als Kompliment. Wenn du meinst, ich hätte ein Milchgesicht, dann willst du mir sicher damit sagen, dass ich genau so schön bin wie meine Mutter. Oder sogar so schön wie Mutter Sītā, die mit ihrer elfenbeinfarbigen Haut den quengeligen Rāvaṇa völlig um den Verstand gebracht hat.“
Auf diese Weise foppten sich die beiden Königlichen und maßen ihre verbalen Fähigkeiten der Ironie und Schlagfertigkeit. Erst als sie das südliche Stadttor Hastināpuras erreichten, legten sie ihre Waffen zur Ruhe. Solcherlei scherzhafte Gespräche waren schließlich nicht für die Ohren ihrer Untergebenen bestimmt.
Beide ahnten nicht, dass diese Art des Ausflugs für viele Jahre der Letzte seiner Art gewesen sein sollte. Die Sonne würde die Erde genau noch acht Mal verabschieden und wieder begrüßen, bis sich das Leben von Vater und Sohn grundlegend ändern würde. Von einigen Göttern und Weisen abgesehen, ahnte an diesem Abend niemand, dass Devavrata bald ein solch schreckliches Gelübde auf sich nehmen würde, dass dessen Kunde selbst in den himmlischen Welten widerklang.