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Für einige Jahre schwelgten Śantanu und Devavrata in ungetrübtem Glück. Es waren diese Art glückliche Jahre, von denen jeder Mensch nur wenige in seinem Leben hat. Beide fühlten sich wie Schatzgräber, die nach langer, vergeblicher Suche endlich auf eine Goldader gestoßen waren. 
Sie liebten einander, wie ein Sohn und ein Vater sich lieben können. Devavrata folgte seinem Vater wie ein Schatten und im Volksmund nannte man die beiden fast nur noch „die Unzertrennlichen“. Gemeinsam aßen und tranken sie, gemeinsam jagten sie und gemeinsam übten sie sich in den üblichen Übungsspielen der Kṣatriyas.
Gemeinsam empfingen sie Gäste aus anderen Königreichen am Hofe und speisten mit ihnen. Gemeinsam berieten sie mit den Brāhmaṇas, Ministern und Generälen die Staatsangelegenheiten und gemeinsam hielten sie Audienz, wenn die Bürger mit ihren Fragen und Problemen vor ihren König traten. Gemeinsam striegelten sie ihre Pferde, trainierten sie ihre Elefanten und kämpften als unschlagbares Duo gegen andere Ringer. 
 
Oft artete ein Reiterkunststück, eine Stunde Bogenschießen oder ein Schwertkampf der beiden in einen kleinen Wettbewerb aus. Jeder versuchte, den anderen zu übertrumpfen. Dabei gewann meistens Devavrata, der aufgrund seiner Jugend und seiner exzellenten Ausbildung Śantanu gleich doppelt überlegen war. Manchmal siegte aber auch der König, denn in Sachen Kriegslist und Kampferfahrung war Śantanu seinem Sohn noch weit überlegen. Bisweilen ließ sich Devavrata aber auch freiwillig besiegen. Allerdings musste er sich dabei so geschickt verhalten, dass es Śantanu nicht auffiel. Denn ein Kṣatriya verabscheut einen geschenkten Sieg. 
 
Fast jeden Tag und jeden Abend verbrachten sie zusammen. Meist ritten sie aus und Śantanu zeigte seinem Sohn bei dieser Gelegenheit verschiedenen Gegenden des Königreiches. Schließlich war Devavrata der neue Prinzregent und dem Volk auch schon als solcher versprochen worden. Es war daher für ihn angebracht, sein Reich und dessen Bürger kennen zu lernen. Die Menschen liebten den Prinzen, der sich seinem Volk gegenüber einfühlsam, höflich und aufgeschlossen zeigte. Kein Zweifel, er würde ein vorbildlicher Herrscher werden. 
 
Je nachdem, welches Ziel Vater und Sohn ansteuerten, ließen sie sich von ihren Ministern, ihrer Armee oder von reichen Händlern oder Bauern begleiten. Am Liebsten aber durchstreiften sie das Königreich zu zweit. Dann hielten sie unterwegs irgendwo unter einem Baum oder auf einer Wiese, labten sich an ihrer Verpflegung und erzählten sich Geschichten. Und beide hatten viel zu erzählen.
 
Beider Neugier schien unstillbar. Devavrata wollte schlichtweg alles über das Leben der Menschen auf der Erde wissen. Oft wunderte er sich, dass den Menschen anscheinend viele Kräfte fehlten, die für die Bewohner Svarga-lokas selbstverständlich waren. Devavrata sah, dass die Wesen auf der Erde viel mehr Fehler machten, viel öfter krank wurden und ihre physischen Fähigkeiten weitaus limitierter waren. Und hinsichtlich ihrer mentalen Kräfte war der Unterschied zwischen beiden Welten besonders auffällig. 
 
Aber eines, und das merkte er schon nach wenigen Tagen, eines hatten die Erdlinge den Himmelsbewohnern voraus: sie beschäftigten sich viel mehr mit Viṣṇu, dem Herrscher über alle Welten. Nicht, dass ihr Wissen über Viṣṇu und seine avatāras größer gewesen wäre als in seinem alten Zuhause. Nein, daran lag es gewiss nicht. Ganz im Gegenteil, vieles wusste Devavrata zu berichten, was auf der Erde nicht bekannt war. An manchen Tagen hatte Devavrata im Palast nichts anderes getan, als von Viṣṇu in seinen mannigfachen Erscheinungsformen zu berichten. 
 
Einmal hatte er sogar zwei ganze Wochen lang, ununterbrochen, von morgens bis abends, nur über das Rāmāyaṇa gesprochen. Und zwar über das Rāmāyaṇa, wie es auf den himmlischen Planeten bekannt war. Der Inhalt des „himmlischen“ Rāmāyaṇas ging weit über das hinaus, was die Menschen auf der Erde kannten. Das gesamte Leben im Königreich war für zwei Wochen fast zum Erliegen gekommen, denn die Erlebnisse Sītās, Rāmas und Hanumāns waren in dieser Zeit das alleinige Gesprächsthema in allen Häusern und Hütten. Śantanu hatte eigens für diese Wochen Weise, Yogis, Schriftgelehrte und Könige aus allen Herren Länder eingeladen.
 
Nein, es lag nicht an der Menschen Wissen über die Absolute Wahrheit oder ihres philosophischen Verständnisses hiervon, dass sie eine innigere Beziehung zu Parameśvara, der höchsten Person, hatten. Es lag an dem Maß ihrer Hingabe. Aus irgendeinem Grunde gelang es den Menschen hier viel häufiger, sich an Viṣṇu zu erinnern oder über ihn zu sprechen. Sie liebten es, über ihn zu hören, ihm Gebete darzubringen oder ihn in tiefer Meditation oder auf einem Altar zu Hause zu verehren.
 
Natürlich gab es all diese Arten der Huldigung auch im Reich der Devas, aber nicht in dieser Form, nicht in dieser Intensität. Es beeindruckte Devavrata, dass die Menschen schon morgens, bevor sie mit ihrem Tagwerk begannen, die ersten Gebete darbrachten. Und ihr Tagwerk war teilweise wirklich anstrengend. Auf den himmlischen Planeten musste niemand dafür arbeiten, sich vor Unwettern zu schützen oder um sich zu verpflegen. Es war einfach alles da, was man brauchte. Zu jeder Zeit. Niemand musste sich mühen oder sich Sorgen machen. Zugegeben, manchmal sorgten ein paar übellaunige Asuras für Unruhe, aber diese Art der Störung kannte Devavrata nur aus Erzählungen.
 
In seiner Kindheit war er immer von den erlesensten Speisen und köstlichsten Getränken umgeben. Er kannte weder Müdigkeit noch Krankheiten. Man wohnte in wunderschönen Palästen und das Wetter war immer angenehm. Feinde oder anderen Ärger gab es selten und auch die Freuden des Liebesgottes wurden viel ausgiebiger  genossen, als er das jetzt bei den Menschen sah.
 
Natürlich waren auch den Devas Lust, Zorn und Gier bekannt, aber im Großen und Ganzen war das Leben in Indras Reich wesentlich unbeschwerter als hier auf der Erde. Trotzdem spürte er, dass die Menschen den Himmelsgöttern diese bhakti, diese Hingabe, voraus hatten. Diese Demut führte die Menschen zu Tiefen ihrer Verwirklichungen, die er auf den himmlischen Planeten, außer bei seiner Mutter und ein paar wenigen Sādhus, nicht angetroffen hatte. 
 
Der junge Krieger fragte sich, ob auch er jemals solch ein hohes Maß der Hingabe zu Viṣṇu entwickeln würde. Er begann erst langsam, sich der Antwort auf diese Frage zu nähern. Er hatte ja auch keine Eile. Das Beruhigende war, dass Viṣṇu in seiner Form als Paramātmā im Herzen eines jeden Lebewesens weilt. Viṣṇu erweitert sich in diesen höchsten ātmā, um die Handlungen jedes einzelnen Lebewesens zu lenken und registrieren. Und Devavrata wusste, dass Viṣṇu nichts vergisst. Jeder auch noch so kleine Dienst, jedes Gebet, jede Opferung, jede Atemübung, jede Freundlichkeit gegenüber Viṣṇus Geweihten, jedes Studieren der heiligen Schriften, jeder Gang zum Tempel und jede Verbeugung vor dem Altar, jede noch so kleine Regung des Respekts und der Liebe zu Viṣṇu wurde wahrgenommen und belohnt. 
 
Er nahm sich vor, wenn die Zeit es erweisen würde, mit seinem Vater und mit den vielen Gelehrten, Yogis und Brāhmaṇas, die er am Hofe immer wieder traf, darüber zu sprechen, wie er in Zukunft Nārāyaṇa noch mehr Dienst darbringen könne. Im Moment interessierten ihn erst einmal die alltäglichen Gegebenheiten auf seinem neuen Planeten. Oft belächelte er bestimmte Marotten und so genannte „ungeschriebene Gesetze“ der Menschen, die Śantanu ihm zu erklären suchte. Bisweilen erschienen die Handlungen der Menschen zweifellos höchst eigenartig. Und selbst Śantanu stimmte manchmal in Devavratas entwaffnendes und lautes Lachen ein, wenn sich der Prinz vergeblich abmühte, einen tieferen Sinn oder eine Logik im Verhalten der Menschen zu finden. 
 
Śantanu hatte seinerseits aber auch viele Fragen. Denn auch im Reich der Götter waren nicht alle Ereignisse nachvollziehbar. Auch die Wesen der höheren Welten hatten wunderliche Verhaltensweisen. Rückblickend erschienen Śantanu manch sonderbare Angewohnheiten seiner damaligen Königin und manch unverständliches Verhalten von ihr gar nicht mehr so absonderlich. Devavrata hatte ihm vieles erklärt und sich diebisch gefreut, in welche Fettnäpfchen Śantanu früher getreten war. Der Bursche grinste dann über das ganze Gesicht, schlug sich auf die Schenkel und rollte sogar manchmal vor Schadenfreude auf dem Boden hin und her. Manchmal machte das Śantanu so wütend, dass er sich auf seinen Sohn stürzte und ihn so lange kitzelte (die empfindlichste Stelle waren die Fußsohlen), bis Devavrata so erschöpft war, dass er prustend und kichernd um Gnade flehte. 
 
An einem linden Tag im Frühling erhoben sich Vater und Sohn etwas früher als sonst von ihren Nachtlagern. An diesem Tag hatten sie etwas Besonderes vor. Heute wollten die Unzertrennlichen ausnahmsweise einmal nicht zu Pferd unterwegs sein, sondern mit einem Wagen. Sie hatten beschlossen, nicht allzu weit aus der Stadt herauszufahren und sich ein schattiges Plätzchen zu suchen, um dort ein ausgiebiges Festmahl zu verspeisen. Denn heute war ein Jahrestag. Vor fünf Jahren war es gewesen, dass ein Halbwüchsiger namens Devavrata an seinem zwölften Geburtstag nach Bhārata-varṣa gekommen war und sich unter die schützenden Fittiche des Königs begeben hatte. Zum König, der sein leiblicher Vater war. Heute war zugleich Devavratas siebzehnter Geburtstag, zumindest nach irdischer Zählung.
 
Śantanu hatte den größten Wagen seiner gewaltigen Flotte gewählt, den man allerdings kaum mehr als kriegstauglichen Streitwagen, sondern wohl eher als pompöse Kutsche bezeichnen musste. Er war eigens für besondere Festtage und für Ausflüge und solcherlei Vergnügungen gezimmert worden. Die Śūdras hatten Jahre an diesem Gefährt gearbeitet und ein wahres Meisterwerk vollbracht. Liebevoll nannten sie es Ratharāja – den König unter den Fahrzeugen. 
 
Seit Jahrhunderten gab es nur zwei Familien, die in der Lage waren, solch eine handwerkliche Meisterleistung zu vollbringen, und denen es erlaubt war, den königlichen Fuhrpark zu bestücken. Die Rājaputas waren für den Wagen, die Räder, die Überdachung, das Geschirr und das Gestänge zuständig. Gerüchte besagten, dass diese Familie auf eine Eskapade zurückgehen soll, die sich vor vielen Jahrhunderten einer der Könige Hastināpuras geleistet hatte und aus der ein uneheliches Kind hervorgegangen war. Die feineren Arbeiten wie Schnitzereien, Aussparungen, Einbauten, Verzierungen und dergleichen mehr, wurden von dem zweiten Clan, den Aśokas, vorgenommen. 
 
Zwischen beiden Familien war im Laufe der Fertigstellung des Wagens der erwartete,  erbitterte Wettstreit ausgebrochen. Jede Familie hoffte, mit ihrer Arbeit den König am meisten zu beeindrucken. Schließlich war es üblich, dass sich am Tag der Begutachtung durch den König die Bürger Hastināpuras und viele Gäste auf dem großen Platz vor dem Palast versammelten und den Künstlern den wohlverdienten Beifall spendeten. Dieser Tag, der inzwischen nur noch „Der Tag der Gilden“ genannt wurde, war schon vor langer Zeit zum Feiertag geadelt worden und hatte im Laufe der Jahrhunderte einen volksfestartigen Charakter angenommen. 
 
An diesem Tag zeigte sich Hastināpura in einem ganz wörtlichen Sinne von seiner farbenfrohsten Seite. Übliche Standesunterschiede waren weitestgehend aufgehoben. Neben den Wappenzeichen der Adelshäuser flatterten einträchtig die Fahnen der Händler und Bauern im milden Ostwind. Neben den Standarten der Armeeregimenter sah man auch Fahnen der Brāhmaṇas, der Vaiśyas und der Śūdras. Die verschiedenen Gruppen der Gesellschaft waren auf dem Marktplatz bunt durcheinander gewürfelt und dieses Wirrwarr, das niemand weder zu einer Ordnung noch zu einem gewollten Chaos organisierte, kündete davon, dass jedes einzelne varṇa, jeder Stamm und jeder Clan bei diesem großartigen Spektakel vertreten waren. 
 
Nicht, dass es zwischen den varṇas große Probleme in Hastinā gegeben hätte. Die Brāhmaṇas, der erste Stand und oft als Kopf einer Gesellschaft bezeichnet, waren bescheiden, rücksichtsvoll, gelehrt und vor allem anderen – sie waren entsagt und genügsam. Ob sie nun Berater, Astrologen, Gelehrte, Minister, Lehrer, Yogis oder Einsiedler waren, niemals häuften sie Besitztümer an, sondern gaben sofort jede Art von Reichtum an das Volk, und insbesondere an die Bedürftigen, weiter. Deshalb musste auch niemand hungern oder in anderer Hinsicht darben. Da sie ihr Wissen wolkengleich, ohne Unterschiede zu machen, an jeden verteilten, der ihre Hilfe benötigte, waren sie allerorten beliebt und gern gesehene Gäste in jedem Haus.
 
Der zweite Stand, die Kṣatriyas, waren sich ihrer Pflichten als Herrscher völlig bewusst. Sie folgten den Ratschlägen der Brāhmaṇas und bemühten sich, ihr Volk vor allen Widrigkeiten des Lebens zu beschützen. Sie waren gerecht, milde und kampfbereit. Von den Vaiśyas zogen sie Steuern und Abgaben ein und gaben diese großzügig an die Brāhmaṇas weiter. Jedweder Gefahr schritten sie entschlossen entgegen und galten daher auch als die Arme einer Gesellschaft.
 
Der dritte Stand, die Händler und Bauern, bestellten das Land, beschützten die Kühe, trieben Handel und zahlten ihre Steuern. Auf diese Weise versorgten die Vaiśyas die Gesellschaft mit allem Lebensnotwendigen und wurden deshalb mit dem Magen der Gesellschaft verglichen.
 
Und der vierte Stand der Gesellschaft, die Śūdras, sie lebten glücklich als Arbeiter, Handwerker und Künstler. Sie dienten den anderen drei Klassen und fühlten sich versorgt und geborgen. Sie hatten kein Interesse daran, sich Entsagungen aufzuerlegen, wie beispielsweise zu fasten, zu meditieren, zu studieren, im Zölibat oder völlig ohne jeden Besitz und ohne jede finanzielle Sicherheit zu leben. Sie waren die Beine der Gesellschaft und immer in Bewegung. 
 
Es lag ihnen auch nichts daran, Kampfkünste zu erlernen, andere Menschen zu führen oder gar in eine Schlacht zu ziehen. Auch die in der Landwirtschaft notwendige langfristige Planung widerstrebte ihrer Natur. Und der Gedanke, ein Geschäft oder einen Handel zu betreiben und nicht sicher sein zu können, wie viel Ertrag man am Ende des Monats erwirtschaftet haben würde, war ihnen ein Graus. Alles, was unwägbar war, was ein Risiko darstellte, was Entscheidungsfreude verlangte, was ihre Lebensgewohnheiten regulieren könnte und vor allem, alles was ihren Sinnesgenuss einschränken würde, all das lehnten sie ab. So wie die Asuras Ehrerbietungen zu Viṣṇu unter allen Umständen zu vermeiden suchen, so umgingen Śūdras, wenn immer möglich, ein allzu striktes Regiment der Sinneskontrolle.
 
Jedes Mitglied der Gesellschaft kannte seinen eigenen Stärken und Schwächen und war froh, den für es geeigneten Platz in der Gesellschaft gefunden zu haben. Doch bei aller Zusammenarbeit und Zufriedenheit wusste auch jeder, dass die verschiedenen Stände ihre  eigenen, typischen Interessen haben. Es ergab sich daher zwangsläufig, dass man sich aus dem Wege ging. Schon allein deshalb, weil all diese vier Stände, mit ihren jeweiligen dutzenden von Untergruppen, ihre eigenen Wohngebiete in der Stadt hatten.
 
Natürlich litten die Śūdras bisweilen darunter, dass sie von allen Gruppen der Gesellschaft am wenigsten Macht und Einfluss besaßen. Daher war besonders ihnen der Tag der Gilden wichtig. An diesem Tag konnten all die verschiedenen Gruppen von Handwerkern und Künstlern, vor dem gesamten Volk und auch vielen Gästen aus anderen Königreichen, ihre jeweiligen Leistungen und Künste präsentieren. Bei den Zuschauern besonders beliebt war der Wettstreit der Sänger und Musiker. Er bildete traditionsgemäß den Abschluss des Spektakels und dauerte oft bis tief in die Nacht.
 
Was die Wagenbauer betraf, so belohnte Śantanu, ganz Staatsmann und oberster Schirmherr des Festtages, beide Familien nach einer gründlichen Inspektion des Wagens mit genau der gleichen Anzahl von Kühen, Land, Goldstücken und anderen Geschenken. Er verkündete, dass beide Familien sich selbst übertroffen hätten und beide sich als Sieger fühlen könnten. Das Volk musste sich nicht so diplomatisch zeigen. Noch Wochen nach dem Festtag wurde  auf den Straßen und in den Häusern eifrig darüber gestritten, wer von den beiden Familien seine Fertigkeiten besser zur Geltung gebracht hatte. Auf einen klaren Sieger konnte sich aber auch das Volk nicht einigen. Alle wussten jedoch, dass es im nächsten Jahr sicher wieder einen neuen, leidenschaftlichen Wettkampf geben würde. 
 
Einig war man sich allerdings darin, dass niemand bisher jemals solch einen Prachtwagen gesehen hatte. Einige der großen Seher und Yogis behaupteten, dass sogar niemand geringerer als Kuvera, der Schatzmeister der Himmelsgötter, auf solch ein Gefährt neidisch werden könnte. (Devavrata bestätigte später diese Meinung.) Die Erbauer hatten sich auf fünf Farben geeinigt: braun, elfenbeinfarben, grün, silbern und gold. Das Ganze war ein einziger Traum von diesen fünf aufeinander kunstvoll abgestimmten und ineinander verwobenen Farben und Assessoires. 
 
Das dunkelbraune und zu Hochglanz polierte Holz war von makelloser Qualität und edel mit Schnitzereien verziert, die den Heldentaten vergangener Könige der Dynastie huldigten. Auch die Bildnisse verschiedener Götter waren mit großer Liebe zum Detail geschnitzt und in insgesamt zehn Nischen eingebettet. Darüber hinaus schmückten unzählige braune und grüne Juwelen, Diademe und elfenbeinfarbige Muscheln den Wagen von außen. 
 
Innen konnte man filigrane Gold- und Silberintarsien bewundern. Die seidenen, dunkelgrünen Kissen waren mit duftenden Substanzen gefüllt und die Handwerker hatten sogar daran gedacht, Fächer einzubauen, in denen man nicht nur Lebensmittel und Getränke aufbewahren, sondern diese auch noch für Tage kühlen konnte. Unterhalb des Randes hatten die Aśokas unterschiedlich breite Rillen und unterschiedlich tiefe Einbuchtungen eingearbeitet, die entweder mit Dekorationsgegenständen wie Blumen und Gras gefüllt werden konnten oder auch als Ablage für Süßigkeiten und anderes Naschwerk dienten. Hinten im Wagen gab es jeweils auf der rechten und auf der linken Seite eine Vorrichtung für das Herausklappen eines hölzernen, mit hellgrünem Samt bespannten Brettes, auf dem man Schriften oder Papiere ausbreiten konnte. 
 
Die bequemen Sitze waren mit Tigerfellen überzogen und der Boden war ebenfalls mit einem Fell bedeckt. Dieses nur an den Rändern leicht braune, ansonsten aber fast weiße Fell hatte der Vater Śantanus einmal als Geschenk von König Ajāmila erhalten, einem Regenten aus dem fernen Norden. Das Fell stammte von einem Tier namens Elch, was anscheinend in diesen nördlichen Gegenden oft anzutreffen war, und hatte sich als besonders strapazierfähig erwiesen. 
 
Am Ende des Wagens befanden sich außerdem drei Trittbretter, auf denen meist Bedienstete mit Pfauenfächern standen, sowie einige Ringe und Schlaufen, die entweder den Dienern als zusätzlicher Halt dienten oder an die man auch Tiere oder Gegenstände festbinden konnte. 
 
Über dem hinteren Teil des Wagens prangte ein silberner Baldachin, der mit einigen Handgriffen und einem zusätzlichen Gestänge in wenigen Minuten zu einer Größe entfaltet werden konnte, die den gesamten Wagen bedachte. Über allem verkündete die Flagge des Herrschers von Hastinā, ein trompetender Elefant, dass hier niemand geringerer als der Kaiser der Welt des Weges kam.
 
Auf diesem vortrefflichen Wagen nahmen Śantanu und Devavrata Platz, um, nur von einem Kutscher, dessen Gehilfen und zwei Dienern begleitet, den Tag im kühlenden Schatten eines Mangohains zu verbringen. Beide freuten sich auf den Tag, von dem sie hofften, ihn, ungestört von den alltäglichen Pflichten eines Regenten, zu zweit verbringen zu können. Diese Tage trauter Zweisamkeit waren rar geworden. Mit den Monaten, die Devavrata auf der Erde war, wuchs langsam aber stetig seine Einbindung in die Staatsangelegenheiten und jedes Jahr waren einige Pflichten neu hinzu gekommen.  
 
Doch dem König stand der Sinn nicht nur nach Entspannung und Familienglück. Er verfolgte für diesen Tag einen zusätzlichen Plan. Er wollte das Gespräch nicht, wie sonst üblich, dem unberechenbaren Lauf der Zeit überlassen, sondern Devavrata gezielt über etwas befragen.
 
Ihn beschäftigte eine Frage, die sich immer wieder mal in seinem Geist meldete. Nicht aufdringlich, weil sie sofortige Beantwortung erheischte, mehr in einer Art und Weise, als wolle sie sich lediglich in Erinnerung bringen, noch immer bereit, geduldig der Auflösung zu harren, aber nicht gewillt, sich für immer zur Ruhe legen zu lassen. Heute wollte Śantanu die Auflösung dieser Frage erbitten, sei sie nun angenehm oder nicht. Die Zeit dafür schien nun gekommen.

 

 

 
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