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Herrlich. Er liebte es, den warmen, starken Körper seines Pferdes unter sich zu spüren. Gierig sog er die Luft ein, die so klar und belebend war wie der Geist eines Yogis, der seine Sinne unter Kontrolle hat. In der Luft lag noch die Feuchte des Morgentaus, denn gerade erst hatte sich die  Sonne entschlossen, den Horizont zu erklimmen.

Wieder einmal hatte er eine schaflose Nacht damit beendet, dass er unerkannt aus dem Palast geschlichen war. Wieder einmal hatten seine düsteren Träume ihren Tribut gefordert und ihn kichernd und drohend verleitet, den Tag noch vor dem ersten Sonnenstrahl zu beginnen. Wieder einmal hatten keine Kräuter, keine Musik, keine Yoga-Stellungen, keine Zerstreuung durch Tänzer und Barden und kein gutes Zureden der Ärzte geholfen. Wieder einmal hatte die Vergangenheit gesiegt. Nur wenige seiner Wachen und Minister waren eingeweiht und kannten das Geheimnis seiner Ausflüge, die oft noch vor dem ersten Morgengrauen begannen. Doch da ihn seine schmerzenden Erinnerungen nun schon seit Jahren unaufgefordert von seinem weichen und in jeder Hinsicht komfortablen Nachtlager aufscheuchten, vermutete er, dass es inzwischen der ganze Hof wusste.

Trotzdem, auch wenn diese Eskapaden seiner Reputation äußerst abträglich waren, so brauchte er einfach hin und wieder diesen Abstand von den kaiserlichen Pflichten. Nicht, dass er mit seinem Schicksal unzufrieden war. Er war gern Kaiser. Auch wenn es eine große Verantwortung bedeutete, die Bürger zu beschützen und jedem gegenüber Gerechtigkeit walten zu lassen, betrachtete er es als Gnade des höchsten Herrn, als eine Gnade Śrī Viṣṇus, dass er dieses Amt bekleiden durfte. Er folgte damit der Tradition seines Vaters, der einst Regent der Erde war, und dessen Vater, und dessen Vater. Seit Jahrtausenden regierten die Kaiser dieser Welt von Hastināpura aus. Keiner hatte den Königen dieser Dynastie jemals den Anspruch auf den Thron streitig machen können, obwohl es viele schon versucht hatten.

Auch er selbst, Mahārāja Śantanu, hatte mit einigen Königen manchen Strauß ausgefochten. Nicht immer wollten die anderen Landesherren die letztendliche Oberhoheit des Kaisers hinnehmen, ohne im Kampf ihre Kräfte gemessen zu haben. Auch wenn alle Könige in ihren Königreichen weitgehende Handlungsfreiheit genossen, so war ihnen selbst dieses Maß an Freiheit manchmal zu gering. Sie begehrten völlige Unabhängigkeit vom altehrwürdigen Königshaus der Kurus und forderten den Kaiser heraus. Doch noch nie war er in einer Schlacht unterlegen gewesen. Keinem Menschen hatte er sich je beugen müssen, und auch keinem Tier, keinem Asura, Rākṣasa, Yakṣa, Nāga oder Gandharva.

Nur eine einzige Person hatte ihn jemals bezwungen – eine Frau! Und das sogar acht Mal! Ja, eine Frau. Doch was für eine Frau! Dieses Wesen war nicht von dieser Welt. (Damals wusste Śantanu noch nicht, dass dies nicht nur im übertragenen Sinne des Wortes zutraf.) Die letzte der acht Niederlagen war die Schmerzlichste von allen gewesen. Auch wenn sie schon zwölf Jahre zurück lag, war es doch das Trauma dieser Erfahrung, das ihn seitdem fast jede Nacht daran hinderte, den Genuss eines erholsamen Schlafes zu finden. Doch von diesen albtraumhaften Geschehnissen damals einmal abgesehen, hatten sich alle Regenten auf dieser Erde stets vor ihm verneigen müssen.

Allerdings wurde er langsam merklich älter, der Zahn der Zeit nagte auch an ihm. Bald würde er einer anderen Pflicht nachkommen müssen, bald würde er das Königreich an seinen... Nein, daran wollte er jetzt nicht denken. Diesen Gedanken wollte er sofort wieder aus seinem Geist verbannen, denn er wollte diese Stunden selbst gewählter Einsamkeit ohne trübselige Einflüsterungen genießen. Er hoffte auf Stunden, die nicht mehr an seine Pflichten als obersten Souverän des Planeten mahnten, Stunden, in der die Zeit sich dezent verabschiedete, Stunden ohne Druck, ohne Hektik, ohne die Notwendigkeit, Probleme zu lösen und Streite zu schlichten. Er hoffte auf Stunden, aus denen er, zwar ohne vorzeigbares Ergebnis, aber zumindest hin und wieder, gut erholt zurückgekehrt war.

Bedenkenlos konnte Śantanu seinen Geist abschweifen lassen, wohin auch immer dieser wollte. Er musste sich keine Sorgen machen, seinen Gedanken nachzuhängen, anstatt besser auf den Weg zu achten, denn sein treues Pferd kannte den Weg nur zu gut. Im Laufe der Jahre war die alte Kämpferin schon Hunderte Male diesen Weg entlang getrabt. Tänzelnd und auf die Hinterbeine steigend, hatte Candrāṁśa ihn vor dem Ausritt empfangen. Auch diese Stute liebte es, nur mit ihrem Herrn und aller Pflichten ledig, über saftige Wiesen zu galoppieren.

Sie wusste, wie der Tag verlaufen würde. Gegen Mittag würde sie mit ihrem Herrn am Fluss ankommen, er würde sich ein kühles Plätzchen suchen und stundenlang auf den Fluss starren, sie selbst würde sich zuerst am unvergleichlich wohlschmeckenden Wasser laben und dann die üppigen Auen abgrasen. Dann würde sie sich zu dem Reiter gesellen und im Schatten des riesigen Banyanbaumes in Ruhe verdauen. Sobald die Sonne den Horizont berührte, würde sich ihr Herr wieder aufschwingen, und satt und zufrieden würde sie in ihrem Stall empfangen werden.

Die anderen Pferde würden sie schon erwarten und sie, wie immer zwar nur aus Höflichkeit und Respekt, aber nichtsdestoweniger ehrlichen und reinen Herzens, über den Verlauf des Tages befragen. Obwohl Candrāṁśa schon in unzähligen Schlachten an der Seite Śantanus gekämpft hatte und sie ihr jetziges, ruhiges Leben genoss, wünschte sie sich in diesen Augenblicken, dass sie den anderen Pferden in den kaiserlichen Ställen endlich einmal wieder etwas Aufregendes berichten könnte.

So wie damals, als sie so schwer verwundet vom Schlachtfeld zurückkehrte, dass jeder damit  rechnete, dass sie sich bald in einen neuen Körper begeben müsste. Aber wider Erwarten hatte sie überlebt. Der Einzige, der nicht an ihren unvermeidlichen Tod glauben wollte, war Śantanu gewesen. Manchmal glaubte sie, dass es allein seine Zuneigung gewesen war, die sie vor dem Tod bewahrt hatte. Jeden Morgen und jeden Abend hatte der König sie besucht und sich bei den Ärzten nach ihr erkundigt, obwohl er selbst schwer verwundet aus dem Krieg heimgekehrt war. Auch wenn ihn jeder Schritt fürchterliche Qualen erleiden ließ, hatt er es sich nie nehmen lassen, seine treue Kampfgefährtin zu sehen und ihr Mut zuzusprechen.

Bei Viṣṇu mit dem Pferdekopf! Bei Hayagrīva! War das ein Aufruhr damals gewesen, als man sie mühsam in den Stall bugsierte! Schließlich konnte sie sich nicht mehr rühren und lag, warm umhüllt, auf einem riesigen, ledernen Tuch. Alles schrie hektisch durcheinander, Dutzende von Menschen schoben, zogen, zerrten und schwitzten. Candrāṁśa erinnerte sich noch sehr gut an diesen Tag. Ein bequemes Lager war vorbereitet worden, mit duftendem, frischem Gras und weichen Decken. Und als die Stallknechte sie behutsam ablegten, kamen sofort alle anderen Pferde zusammen. Alle sorgten sich um sie und redeten wild durcheinander.

Als bis auf zwei Wachen alle Menschen endlich den Stall verlassen hatten, ergriff Maruta, der Rappe, das Wort. Er war ein erfahrenes Schlachtross und aufgrund seines Alters und seiner Weisheit der ungekrönte König aller Pferde in Hastināpura. „Candrāṁśa, kannst du mich hören?“, fragte er mit ungewöhnlich weicher Stimme, „Wie geht es dir? O Mondsplitter, können wir irgendetwas für dich tun?“ Maruta wartete nicht auf die Antwort, sondern wandte sich sofort an die anderen Pferde. „Geht. Lasst sie allein. Sie ist zu schwach. Einer von uns sollte neben ihr Wache halten, falls sie etwas braucht.“

Candrāṁśa registrierte die Fürsorge der anderen Tiere voller Dankbarkeit. Die nächsten Tage waren alle Pferde besonders leise und vorsichtig. Keines stampfte mit den Hufen, keines wieherte laut. Selbst Cota und Śloka, die beiden Fohlen, die gerade einmal fünf Tage alt waren, beherrschten sich. Sie verstanden zwar nicht, was vor sich ging, merkten aber, dass eine Atmosphäre der Rücksicht und der Ehrfurcht die kaiserlichen Stallungen durchdrang.

Es dauerte volle zehn Tage, bis Candrāṁśa wieder so stark war, dass sie berichten konnte, was vorgefallen war. „Also“, begann sie mit ihrer Erzählung, und alle rückten noch etwas näher heran, um kein Wort zu verpassen, „wie ihr wisst, hatten die Rākṣasas eine Gruppe von Sādhus angegriffen, die sich vor diesen Ungetümen gerade noch in den Palast retten konnten. Auch ein paar Yakṣas haben da irgendwie mitgemischt. Wie dem auch sei, als wir in Richtung Süden aufbrachen, wussten wir, dass es ein schwerer Gang werden würde. Diese Rākṣasas hatten den Überfall lange geplant und versucht, uns in einen Hinterhalt zu locken.“

Auch wenn Candrāṁśas Wunden noch schmerzten, schätzte sie es doch, soviel Aufmerksamkeit zu genießen. Sie schaute in die Runde und genoss vor allem die großen, neugierigen Augen von Cota und Śloka. „Nachdem wir also diese unzivilisierten Wesen aufgestöbert hatten, entbrannte eine fürchterliche Schlacht. Ihr habt bestimmt von den Elefanten alles darüber erfahren und ich brauche mich damit nicht weiter aufzuhalten.“ Den beiden Fohlen gefiel diese Wendung ganz und gar nicht. „Ach bitte, bitte“, flehten sie, „wir haben die Geschichte noch nicht gehört. Ach bitte, lieber Mondsplitter, wir sind doch erst ein paar Tage alt!“ Candrāṁśa ignorierte den Einwurf und fuhr in ruhigem Ton fort. „Es lief nicht schlecht, wenngleich auch wir hohe Verluste zu beklagen hatten. Aber Śantanu war in überragender Form.

Als er sich endlich, nach vielen Tagen und Nächten erbitterten Kampfes, dem skrupellosem Anführer der gegnerischen Horden gegenüber sah, der allerdings, wie ich zugeben muss, ein ausgezeichneter Krieger war, hörte ich das vertraute Geräusch eines sirrenden Pfeils. Ihr kennt das alle. Als unser Monarch seinen Pfeil auf den Rākṣasa abschoss, murmelte er kaum hörbar ein Mantra, woraufhin sich der Pfeil sofort in zehn Pfeile aufspaltete. Die Wucht der Geschosse war so groß, dass der Menschenfresser nicht nur auf der Stelle starb, sondern mehr als dreißig Pferdelängen weit geschleudert wurde. Seine Seele hatte bereits den Körper verlassen, als er gegen einen anderen Elefanten prallte und von diesem in blinder Wut zerstampft wurde.“

Candrāṁśa machte eine Kunstpause, während sich alle vielsagend anschauten und „jay“, „jaya“ oder „jayho“ riefen, je nachdem, welchen Dialekt sie hatten. „Śantanu hatte wieder einmal gezeigt, was für ein exzellenter Bogenschütze er war“, fuhr die Stute fort. Sie machte wiederum eine Pause, seufzte theatralisch und nippte an dem gekühlten Wasser, das sich direkt vor ihrem Kopf in einem Trog befand. Wie in Zeitlupe legte sie ihren Kopf bedächtig auf das mit samtenen Decken gepolsterte Stroh zurück. Sie räusperte sich noch einmal und fuhr dann fort. „So weit, so gut, alles lief nach Plan. Doch dann stürzte wutschnaubend der riesige Elefant des Rākṣasas auf uns zu. Ich sage euch, das war vielleicht ein Monstrum! Ein riesiges Viech, mit Stoßzähnen so lang wie ein ganzes Pferd! Er schnaufte und spie Feuer, er rülpste und trompetete, er stampfte und drehte sich; ich sage euch, das war vielleicht ein Anblick.“ Candrāṁśa erntete allgemeine Bewunderung und Zustimmung mit ihrer Beschreibung, die meisten Pferde hatten schon ähnliche Kämpfe erlebt oder zumindest von ihnen gehört.

„Wie dem auch sei, ich hörte wieder das uns allen bekannte Sirren und wusste, dass für den Elefanten das letzte Stündlein geschlagen hatte. Blattschuss! Voll ins Herz! Keine Chance für den armen Dickhäuter. Doch leider bewegte sich der Koloss weiter auf mich zu. Als das rachsüchtige Ungeheuer keine fünf Pferdelängen mehr entfernt war, wusste ich natürlich, was jetzt kam. Ich musste meine Kräfte für einen gewaltigen Sprung sammeln. Man weiß ja nie, ob solch ein Ungetüm so von dem Pfeil getroffen wird, dass es nach hinten umfällt, ob es in sich zusammensackt oder ob es wie eine gewaltige Kugel auf dich zuschießt. Das letztere Szenario ist natürlich das gefährlichste.“

Alle nickten. „Wie damals, als du unter dem Adler begraben wurdest“, fügte Maruta hinzu.
„Ja, so in etwa“, bestätigte Candrāṁśa. „Ich hatte jedenfalls kein Bedürfnis, diesen schwerfälligen Gesellen näher kennen zu lernen.“ Alle lächelten belustigt über diesen kleinen Seitenhieb auf alle Elefanten, die gern von den Pferden wegen ihrer Langsamkeit geneckt wurden. „Ich spannte also alle Sehnen und Muskeln an. Für den Bruchteil einer Sekunde verharrte ich noch. Ich wollte abwarten, ob die riesige Masse, die sich da auf mich zuwälzte, ihre Richtung ändern würde oder nicht. Denn falls ja, könnte ich vielleicht doch noch einfach nach links oder nach rechts ausweichen. Doch der Fleischkoloss machte keine derartigen Anstalten.

Länger konnte ich jetzt nicht mehr warten. Ich wusste, dass ich mindestens drei Pferdehöhen würde hochspringen müssen. Solch eine Höhe hatte ich erst einmal in meinem Leben gemeistert. Damals war ich aber noch wesentlich jünger gewesen und außerdem schwebte Śantanu in solch einer großen Gefahr, dass nur ich ihn mit solch einem gewagten Sprung hatte retten können.“

Cota und Śloka tauschten einen flüchtigen Blick aus, denn sie dachten beide das gleiche. Sie durften auf keinen Fall vergessen, ihre Mütter später über diese Geschichte auszufragen. Ihr König war also schon einmal in Lebensgefahr gewesen! Und nur ein Pferd hatte ihn retten können! Ein Pferd aus ihrem Stall! Doch lange konnten sie nicht über diesen Triumph ihrer Rasse nachdenken. Candrāṁśa setzte ihren Bericht fort.

„Ich legte die Ohren zurück und sprang. Der gewaltige Sprung schien zu gelingen. Als ich die Kugel aus Elefant und ..., Leute, ich will gar nicht daran denken, was da noch alles für Fleischstücke an dem Untier klebten, also, ich war fast schon über den Elefanten d’rüber, da erwischte es mich doch noch. Ein Stoßzahn schlitzte mir die linke Seite auf. Mit großer Mühe fing ich mich noch bei der Landung ab, aber dann brach ich zusammen.“ Ein vielstimmiges „aaa“ und „ooo“ und „o Viṣṇu“ war von den Umstehenden zu hören. „Nur gut“, beschloss Maruta die Erzählung, „dass unser König immer die Kräuter der Hanumān-Bhaktas aus dem Himalaya dabei hat. Keiner weiß so genau, was das für Pflanzen sind, aber sie helfen immer wieder.“

Fürwahr, dachte Candrāṁśa und verließ ihre Erinnerungen und den Stall, um langsam wieder in die Gegenwart zurückzukehren. Geholfen hatten die Kräuter prächtig. Sonst könnte sie heute nicht so unbeschwert mit ihrem Herrn ausreiten. Die Stute schalt sich ein wenig, dass ihre Gedanken so weit abgeschweift waren und mahnte sich zur Konzentration. „Zügle deinen Geist“, sprach sie zu sich, „und achte lieber auf den Weg vor dir. Schließlich ist es deine Pflicht, wachsam zu sein. Mein Herr und Meister hat weiß Viṣṇu genug andere Dinge im Kopf, die ihn belasten. Besonders jetzt, im Frühling, wenn sich dieser schreckliche Tag bald wieder jährt.“

Śantanu berührte sein edles Ross leicht mit dem rechten Schenkel, was das Zeichen dafür war, dass er wünschte, nach links zu reiten. Der Weg gabelte sich hier und entgegen seiner sonstigen Gewohnheiten schlug Śantanu heute den Weg nach Westen ein. Heute wollte der König einmal einen kleinen Umweg reiten. Vielleicht ergab sich ja eine Ablenkung, und alles, was ihn ablenkte, war willkommen.

Außerdem konnte er den Brāhmaṇas nicht jeden Tag die gleiche Ausrede auftischen. Es gehörte zwar zu den Pflichten eines Monarchen, sein Königreich regelmäßig zu inspizieren, doch musste dies nicht so häufig geschehen wie in seinem Falle. Und schon gar nicht immer auf der gleichen Route. Schließlich war sein Königreich so groß, dass es viele Tage gedauert hätte, die Grenze zu erreichen. Von den anderen Königreichen, die unter seiner Oberaufsicht standen, ganz zu schweigen. Deshalb schlug er heute einmal einen anderen Weg ein. So konnte er nach seiner Rückkehr in den Palast zumindest berichten, dass er auch im westlichen Wald nach dem Rechten gesehen hat.

Die Dämmerung kämpfte schon ihren alltäglichen, hoffnungslosen Kampf und Śantanu erfreute sich an den vielen Blüten, die stolz ihre grellen Farben präsentierten. Der Wald, den er jetzt durchquerte, war für seine Unmenge an Aśokabäumen bekannt. Abgesehen vom heiligen Banyanbaum, waren die Aśokas Śantanus Lieblingsbäume. Er liebte sie allein schon wegen ihrer das ganze Jahr über tiefgrünen Blätter. Doch wenn erst der Frühling kam, musste man einfach ihrem Charme unterliegen, denn dann entfalteten sie mit ihren orange und scharlochrot strahlenden Blüten eine unvergleichliche Pracht.

Śantanu erinnerte sich in diesem Moment, dass er vor einigen Jahren, als ein Sannyāsī unerwartet den Palast des Kaisers beehrte, noch von ganz anderen Bäumen gehört hatte. In der spirituellen Welt, in Vaikuṇṭha, so verriet damals der Wandermönch, solle es sogar Bäume geben, die einem jeden Wunsch erfüllen können. Jeden! Damals hatte der König beschlossen, dass er sich auf jeden Fall zuerst einmal einen Aśokabaum wünschen würde, falls es den in der spirituellen Welt nicht schon geben sollte.

Überhaupt, dieser Sannyāsī, so richtig schlau war niemand aus ihm geworden. Schnell wurde aber deutlich, dass er nicht nur ein treuer Verehrer Śrī Viṣṇus, sondern auch ein wahrer Gelehrter war. Selbst die gebildetsten und geachtetsten Brāhmaṇas an Śantanus Hof hingen an seinen Lippen, von den anderen Bewohner der kaiserlichen Paläste ganz zu schweigen. Dieser Vaiṣṇava hatte wahrlich ein schier unbegrenztes Wissen. Śantanu hatte sogar von ihm gehört, dass schon sehr bald eine weitere Form Viṣṇus die Erde besuchen würde. Natürlich hatten vor allem die Brāhmaṇas versucht, mehr darüber zu erfahren, aber dieser Heilige hatte sich völlig bedeckt gehalten. Er wollte nicht einmal den Namen dieses avatāras verraten. Dieser Mönch war eine seltene, mystische Erscheinung gewesen. Niemand hatte ihn jemals zuvor gesehen, und bis heute wusste auch niemand, woher er kam und warum er in Hastināpura aufgetaucht war.

So wenig dieser Sādhu über die Zukunft verraten wollte, umso mehr erzählte er  über vergangene Inkarnationen Viṣṇus. Schon oft hatte Śantanu darüber von seinen Lehrern gehört, doch war er immer wieder aufs Neue von diesen Erzählungen begeistert. Er mochte die Geschichte des Matsya-avatāras, Viṣṇus Form als gigantischer Fisch, da dort ein König eine besonders wichtige Rolle spielte. Aber vor allem liebte er es natürlich, über Śrī Rāmacandra zu hören, denn Viṣṇu erschien in dieser Inkarnation nicht nur als ein Mensch, sondern auch als ein Kṣatriya, als der Sohn Mahārāja Daśarathas, des Kaisers der Welt. Als Śrī Rāma hatte der Höchste Herr gezeigt, wie sich ein perfekter Sohn und König verhalten sollte.

Śantanu dachte oft darüber nach, wie unergründlich die Wege Viṣṇus sind. Die Absolute Wahrheit nimmt eine Form als Sohn eines Königs an – das allein war für einen Monarchen wie Śantanu natürlich schon spannend. Dann heiratet dieser Prinz seine ewige Gefährtin Lakśmī, die man damals Sītā nannte, lässt es zu, dass seine Frau von einem Rākṣasa namens Rāvaṇa entführt wird und stürzt sich dann in einen gewaltigen Krieg mit diesem kecken Unhold. Die Götter, von denen einige Viṣṇu in jeder seiner Inkarnationen begleiten, durften in der Episode Rāmas in außergewöhnlich großer Anzahl teilnehmen. Und dies auch noch in den Körpern von Affen.

Schon als Kind hatten seine Eltern ihm viele Geschichten aus dem Rāmāyaṇa, dem Epos, das Vālmīki Muni über Rāma verfasst hatte, erzählt. Und sein Großvater, der ehrenwerte Śuklaṁbhara, an dem zweifellos ein grandioser Schauspieler und Stimmenimitator verloren gegangen war, hatte jeden Abend nicht nur das Rāmāyaṇa zu ihm gesprochen, sondern oft auch einzelne Szenen nachgespielt. Besonders Hanumān hatte es seinem Großvater angetan, denn die Begebenheiten, die mit dem berühmtesten Affen aller Zeiten zu tun hatten, waren eine besonders dankbare Schauspielvorlage.

Obwohl Śantanu also sowohl im Elternhaus wie auch später von den Brāhmaṇas die Geschichte Rāmas schon Hunderte Male gehört hatte, konnte er von diesem Vaiṣṇava wieder einmal etwas erfahren, was er noch nicht wusste. Er hörte nämlich, dass es auf den himmlischen Planeten ein Rāmāyaṇa geben würde, das noch viel umfangreicher sei als das auf der Erde bekannte. Wie sehnte er sich danach, auch dieses Rāmāyaṇa eines Tages hören zu können. Doch noch war er auf der Erde, noch war er Zuflucht und Beschützer für Millionen von Menschen, Tieren und Pflanzen. Noch waren seine Aufgaben in diesem Leben und auf diesem Planeten nicht erledigt. Zumindest nicht alle.

Kurz bevor er das Ende des Waldes erreicht hatte, zügelte er sein Pferd, denn er zog es vor, nicht gesehen zu werden. Von einigen Bäumen noch ausreichend vor Blicken geschützt, schaute er aus dem Wald hinunter in eine Senke. Er betrachtete die zwei altbekannten Seen, die nicht weit voneinander entfernt lagen und sich schon seit Jahrtausenden an diesem Platz befanden.

An dem einen See sah er eine Elefantenherde und einen Tiger ihren Durst stillen. An dem anderen See standen ein Dutzend Eremiten, Yogis und Asketen und kamen ihren morgendlichen Pflichten nach. Einige wuschen sich, andere entleerten sich und wieder andere flochten ihr Haar. Einige standen bis zur Hüfte im See und sprachen unhörbar ihre Gāyatrī-Mantras, während andere Wasser schöpften. Manche sammelten auch Holz oder pflückten Blumen, die sie für ihre pūjā, ihre morgendliche Zeremonie zur Verehrung ihrer jeweiligen Gottheit, benötigten.

Śantanu war zufrieden. Alles war friedlich und so, wie es sein sollte. Mensch und Tier hatten sich miteinander arrangiert und ein jeder ging seinem Tagwerk nach. Hier gab es nichts für ihn zu tun, und so setzte er sein Pferd langsam wieder in Trab.

 
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