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Satyavatī wurde mehr und mehr vom schlimmsten aller Arten des Kummers überwältigt – vom Liebeskummer. Zwischen den Wogen des Schmerzes und der Hoffnungslosigkeit wie ein führerloses Schiff hin und her geworfen, blieb ihr scheinbar niemand anderer als die leuchtenden, gelben Freunde vor ihr, um Erleichterung zu suchen. 
„O Töchter der Sonne, ich danke euch für euer freundliches Mitgefühl. Doch möchte ich euch warnen. Macht nicht den gleichen Fehler wie ich. Lasst eure Hoffnung sich nicht nähren, erstickt sie im Keim, denn sie kann keine Früchte tragen.
 
O Nārāyaṇa, deine Kräfte sind unbegrenzt, du lenkst die Schritte aller Lebewesen, bitte sei mir gnädig! O Mutter, warum nur musstest du diesen Zwang erfinden? Warum nur hast du meinem Vater und mir solch einen Frondienst auferlegt? O Mutter, musste es denn wirklich sein, dass mein Vater dir versprechen musste, mir nur dann den Stand der Ehe zu gewähren, wenn mein Sohn Regent des Königreichs sein würde? Wie viele Männer kommen dann für mich in Frage? In diesem Königreich doch wohl nur ein einziger! 
 
O Parameśvara, wie soll ich diesen einen Mann kennen lernen? In all den Jahren bemühte sich mein Vater lediglich zwei Mal mit mir in seine Stadt! Jahrein, jahraus hoffte ich, dass mein Vater nach Hastināpura ginge oder in ein anderes Königreich. Doch nichts geschah. Bis sich vor einigen Tagen ein Wunder ereignete. Endlich! Endlich wurden meine Gebete erhört und dieser Gott auf Erden setzte seinen Fuß in unsere bescheidene Hütte! Diesen schönen Fuß, den ich baden will. Diesen kräftigen Fuß, den ich verehren und massieren will. Diesen schlauen Fuß, der die Opfer der Brāhmaṇas genauso sucht wie die Schlachtfelder dieser Welt. Dieser treue Fuß, der nur ein paar Schritte von mir entfernt war, und doch so unerreichbar.
 
Der Kaiser persönlich hielt um meine Hand an! Nach all den Jahren durfte die Pflanze der Hoffnung auf eine Heirat wieder zarte Knospen treiben. Seit Jahren schon musste ich zusehen, wie sie mehr und mehr verwitterte, wie sie zu einem Wesen verkümmerte, das sich fast auf seinen ursprünglichen Keim reduziert hatte. Nur der Same war noch geblieben, der zwar im Boden lauert, aber fruchtbare Erde schwängern muss, will er zur Blüte sich wieder hoch erschwingen. Und jetzt wurde genau das wahr – der Kaiser persönlich hielt um meine Hand an! Der Kaiser ... er ... persönlich ... meine Hand ...“ Satyavatī versagte die Stimme. Sie brach zusammen. Wie ein Haus, das inwendig ausgebrannt war und schließlich stumm in sich zusammenfällt, so schlug es sie hin.
 
Sie schluchzte, sie zitterte, sie bebte, sie grollte. Wellen tränenreicher Erinnerungen schlugen über ihr zusammen. Zuckend und zusammengekrümmt lag sie auf dem Boden und die Sonnenblumen neigten sich in ihre Richtung, als wollten sie ihr beistehen. Nie hatte sie geweint, wenn ihr Vater wieder einmal einen Bewerber fort gesandt hatte. Jede seiner Entscheidungen hatte sie klaglos hingenommen. Doch auch Satyavatī war nur ein Mensch, auch sie konnte nur ein begrenztes Maß an Schicksalsschlägen ertragen. Niemals würde sie es wagen, ihrem Vater laute Worte wütenden Tadels von Angesicht zu Angesicht entgegen zu schleudern. Aber sie wollte wenigstens so lange und so laut weinen, wie ihr danach dürstete.
 
Jener Teil ihres Kummers, der den Geist sich wie einen geprügelten Hund zurückziehen lässt und der ihn apathisch und weltfremd machen kann, jenen Teil hatte sie unter Schmerzen und Krämpfen mit ihren reichen Tränen aus dem Körper gespült und damit für eine Weile befriedet. Doch der andere Teil des Kummers, jener Teil, der kämpferisch und angriffslustig macht, der sich bisweilen rasend und unberechenbar zeigt und der sogar, wenn ihm zu viel Raum gegeben, die Fratze des Bösartigen und des Hinterlistigen trägt, dieser Teil verlangte nun auch nach Aufmerksamkeit.
 
„O ihr Götter, was habe ich euch nur getan! Warum foltert ihr mich auf diese Weise? O Dharmarāja, habe ich in meinem letzten Leben vielleicht einen Brāhmaṇa beleidigt? Hilft mir deshalb all mein gutes Wissen nicht, um mein Schicksal zu verstehen? O Indra, war ich vielleicht einem Monarchen ungehorsam, dass ich nun in diesem Leben auf seinen Schutz verzichten muss? O Brahmā, habe ich vielleicht die Götter missachtet, da sie mir nun diesen üblen Streich spielen? O ihr Vier Kumāras, habe ich meine Eltern brüskiert, auf dass ich in diesem Leben einer schweren Prüfung unterzogen werde? O Śiva, habe ich vielleicht einer Pflanze oder einem Tier ein Unrecht angetan? 
 
O Dīnabandhu, habe ich ein Kalb von seiner Kuh getrennt, dass ich jetzt ohne Nachkommen leben muss? O Mutter Sītā, du vorbildlichste aller Frauen, habe ich gar meinen Ehemann betrogen, auf dass ich ohne seinen Halt mein Dasein fristen muss? Was, großer Viṣṇu, habe ich in meinem letzten Leben nur getan? O Paramātmā, der du die Geschicke eines jeden Wesens lenkst, ist mein Karma noch nicht abgetragen? O Nārāyaṇa, bin ich noch nicht genug geläutert? Ist meine Leidenszeit nicht bald erschöpft? O Daśarathasūta, muss ich wirklich noch weiter trauern? O Rāmaraghava, muss ich noch weiter leiden? O Vāmana, kleiner, entsagter Viṣṇu, du weißt, wovon ich spreche, muss ich noch weiter darben?“
 
Satyavatīs Zorn gab ihr neue Kraft. Sie rappelte sich vom Boden auf, warf die Arme nach oben und schrie all ihre Wut, all ihre Enttäuschung und all ihre Verzweiflung in den Himmel: „W-a-r-u-m? Warum? All ihr Himmelsbewohner, all ihr Götter, all ihr Bewohner der Hölle – was wollt ihr von mir? Was soll ich tun? Welche Bußen soll ich auf mich nehmen? Sprecht zu mir! Gebt mir ein Zeichen. Sprecht. Ein Wort! Ein Hinweis! Ich bitte euch.“
 
Wie ein Vulkan, der seine Pflicht erfüllt hat und dessen gefährliche Fracht sich nun langsam den Hang hinab begibt, so legten sich Satyavatīs feine Körperhaare langsam zurück auf ihre Haut. Und so wie sich ein Vulkan mit seinem Ausbruch erschöpft, so kehrten Satyavatīs  Sinne langsam zu ihrer normalen Funktion zurück. Auch der Anführer der Sinne, der Geist, beruhigte sich vorerst wieder, und so nahm die Herrin der beiden Ufer allmählich wieder ihre Umgebung war. 
 
Die Stille, die sich über den See gelegt hatte, war ohrenbetäubend. Es schien ihr, als sei selbst der Wind verschreckt und hatte den Atem angehalten. Doch trotz völliger Windstille schwankten die Gräser, Blumen und Bäume rings um sie herum. Ob sie dem beklagenswerten Menschen aufmunternd zunickten oder ob sie pikiert den Kopf schüttelten, konnte Satyavatī nicht erkennen. Sie wollte aber auch gar nicht gründlicher darüber nachdenken, denn sie fühlte sich, als würde das gesamte Universum sie beobachten.
 
Ihr wurde wieder bewusst, dass keine Seele jemals allein ist, dass es immer Zeugen für die Handlungen der Lebewesen gibt: den Tag, die Nacht, den Mond, die Sonne, die Himmelsrichtungen, die Götter, oder auch den Himmel, die Erde und die Luft. Und Viṣṇu natürlich. Er begleitet die Seele Leben für Leben als Zeuge ihrer Handlungen. Er ist es, der den Göttern anzeigt, welchen Körper sie der Seele für das nächste Leben zur Verfügung stellen sollen. Er ist es, der nicht nur die Vergangenheit eines jeden Lebewesens kennt, sondern auch seine Gegenwart und große Teile seiner Zukunft.
 
Viṣṇu erscheint in unzähligen Formen, und drei dieser Formen, die in den Veden als puruṣa-avatāras beschrieben werden, kümmern sich um die Belange der materiellen Energie: Mahā-Viṣṇu, Garbhodakaśāyī-Viṣṇu und Kṣirodakaśāyī-Viṣṇu. Der Letztere erweitert sich in weitere Formen, die als Paramātmā bekannt sind und welche die Seelen auf ihrer Wanderung durch den materiellen Teil der Schöpfung leiten. Da der Paramātmā dieses umfängliche Wissen hat, kann er jedem einzelnen Lebewesen, ob Mikrobe, Pflanze, Tier, Mensch, Deva oder Brahmā, in jedem Augenblick der Existenz sein ihm zustehendes Karma gewähren.
 
Satyavatī war von ihrer emotionalen Entblößung so peinlich berührt, dass sie sogar für einen kurzen Moment ihren Liebeskummer vergaß. Etwas fahrig und ungelenk ordnete sie sich das Haar, zog den Sari etwas tiefer ins Gesicht, zupfte an ihrem Oberteil und strich einige nicht vorhandene Falten auf ihrem Gewand glatt. Sie räusperte sich und versuchte so zu tun, als  wäre sie nur rein zufällig gerade am Ufer des Sees.
 
Noch etwas wacklig in den Knien, doch gewohnt leichtfüßig, lief sie zum Steg und stieg herunter auf das Floß, in dem sie in diesem Moment eine Zuflucht, einen guten alten Bekannten, erkannte. Sie setzte sich im Lotossitz so auf das Floß, dass sie sich mit dem Rücken an den Steg anlehnen konnte und atmete durch. Sie tadelte sich für ihre Unbeherrschtheit, denn sie empfand es als unangemessen, die ganze Welt an ihrem Schmerz teilhaben zu lassen.
 
Ihre Härte sich selbst gegenüber war ungewöhnlich für eine Frau und zum großen Teil der jahrelangen Einsamkeit auf der Insel geschuldet. Sie wusste nicht, dass der Ausbruch ihrer Gefühle den Abschluss ihrer Zeit der Entsagung einläuten sollte. Sonst wäre sie vielleicht in diesem Augenblick zurück zur Insel gerudert und hätte ihren Vater umarmt oder hätte sich auf eine Wiese in die Sonne gelegt. Vielleicht wäre sie zu dem Kranichpaar gegangen, das ebenfalls auf der Insel wohnte und inzwischen so handzahm geworden war, dass es sich streicheln ließ. Oder sie hätte ihren schönsten Sari angezogen und all ihre Schmuckstücke angelegt (es waren allerdings nur ganze fünf Stücke, die sie besaß).
 
Doch sie war nur ātmā, eine Seele, nicht Paramātmā, die Höchste Seele, und so sah sie den auf sie zukommenden Ereignissen völlig unbedarft entgegen. Bei aller Scham über das unziemliche Stoßgebet war sie, genauer gesagt ihr Verstand, jedoch der Meinung, dass noch nicht alles über ihren bedauernswerten Zustand verkündet war. Sie hätte nie eingesehen, geschweige denn zugegeben, dass sie den nächsten Wellen der Klage, die über sie hereinbrechen würden, sogar eine gewisse Freude abgewinnen konnte.
 
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