Śantanu schaute noch immer staunend auf den Jüngling und erwartete ein weiteres Zeichen. Ihm wurde in diesem Augenblick wieder bewusst, dass er, noch immer völlig durchnässt und noch immer mit einer schmerzenden Hand und einem angeschlagenen Arm, seine Pflicht zu erfüllen hatte. Es galt, den Staudamm zu zerstören. Entweder gelang ihm dies jetzt oder es wäre die Zeit gekommen, sein Leben zu geben. Für einen König seines Ranges gab es nur zwei Möglichkeiten, einen Kampf zu beenden – Sieg oder Tod.
Der Knabe machte aber keine Anstalten, sich auf einen Kampf vorzubereiten. Oder doch? Jetzt nahm er den Bogen von seiner Schulter. Er tat dies mit einer Anmut, wie es Śantanu noch selten zuvor gesehen hatte. Ohne den Blick von Śantanu abzuwenden und ohne sein strahlendes Lächeln zu dämpfen, nahm der Bursche einen Pfeil aus seinem Köcher, legte an, und schoss geradewegs mitten in den Staudamm.
Fast unhörbar, nur von einem dumpfen „plopp“ begleitet, landete der Pfeil bei seinen Brüdern. Śantanu sah, wie schon einige Sekunden später Wasser entlang des Pfeils rann und zögerlich herab tropfte. Schnell wurde die Folge der Tropfen so kurz, dass sich ein dünner Strahl bildete. Stetig schwoll der Strahl an und nur kurze Zeit später katapultierte es den zuletzt abgeschossenen Pfeil, von einem heftigen Zischen begleitet, aus dem Wall heraus. Schon folgten ein zweiter Pfeil, und noch drei weitere. Der Strahl nahm an Umfang und Heftigkeit rasant zu, bis schließlich ein laut dröhnendes Ächzen und Jammern des Staudamms sein eigenes Ende ankündigte. Tosend brach das Kunstwerk in sich zusammen und die starken Wasser der Gaṅgā flossen wieder ungehindert in ihrem Bett.
Die Wucht des wieder erstarkten Wassers war so gewaltig, dass es nicht nur das ungeliebte Hindernis mit sich fortriss. Kleingetier und Fische, ja selbst Krokodile und die von Śantanu bezwungene Riesenschlange trieben hilflos mit dem Strom. Belustigt betrachteten die beiden Krieger die Szenerie, doch außer ihnen und den beiden Delfinen, die an den neuen Strudeln und Stromschnellen entlang schossen und das Ganze außerordentlich zu genießen schienen, konnte keiner der Wasserlebewesen über diesen seltsamen Anblick lachen.
Die Gaṅgā aufzuhalten! Nur dem Schwager Gaṅgās war so etwas bisher gelungen. Aber dies war vor Millionen von Jahren gewesen. Und außerdem ist Śiva in seiner Macht fast mit Viṣṇu vergleichbar. Wer hatte es heute gewagt, sich mit Mahādeva, dem größten unter den Göttern, zu messen? „Wie dem auch sei“, sagte sich Śantanu, „die Gaṅgā folgt wieder ihrem Lauf, ich habe meine wichtigste Pflicht erfüllt.“ Nun konnte er sich wieder dem Unbekanten zuwenden, der für all diese Aufregung gesorgt hatte. Wer war dieser Junge?
Śantanus Geist beruhigte sich langsam wieder. Dieser Fremde hegte keine feindlichen Absichten, denn er hätte in den letzten Minuten Śantanu problemlos angreifen können. Dessen konnte er sich jetzt sicher sein. Doch ein anderer Gedanke ließ sich trotz aller Versuche, ihn zu vermeiden, nicht so leicht verabschieden. Könnte es sein, dass dieser fremde Junge, der ihm von Anfang an seltsam vertraut gewesen war, der Sohn seiner letzten Frau war? Ja mehr noch, wenn er tatsächlich ihr Sohn war, dann könnte es doch sogar sein, dass dieser Jüngling eben jener Sohn ist, den sie vor zwölf Jahren mit sich nahm. Und dies wiederum würde bedeuten, dass es auch sein Sohn war, sein eigener, leiblicher Sohn.
Die Nebel in Śantanus Verstand lichteten sich so weit, dass er sich nun sogar erlaubte, wenngleich noch immer zögerlich, ernsthaft über diese Möglichkeit nachzudenken. Und wenn er diesem Jungen tief in die Augen schaute, sah er dann nicht auch sich selbst, wie er in seinen Tagen der Jugend erstrahlte? Fürwahr, diese Ähnlichkeit war nicht eingebildet. Als ob der Knabe Śantanus Gedanken lesen könne, begann er über das ganze Gesicht zu lächeln. Er begann sogar herzhaft zu lachen und blickte voller Milde und Liebe, aber auch mit einem guten Schuss Schalk, auf den Kaiser der Welt. Śantanu wäre am liebsten losgerannt, um den Jungen zu umarmen. Auch wenn eine innere Stimme immer noch zur Vorsicht mahnte, mehr und mehr beherrschte ihn ein einziger Gedanke – ich stehe vor meinem Sohn!
Plötzlich wurde es hinter dem Jungen so hell, als würden tausend Sonnen aufgehen. Eine Gestalt tauchte aus dem gleißenden Nichts auf. Ihre Ausstrahlung war so gewaltig, dass Śantanu nicht nur die Augen schließen, sondern sich auch noch zur Seite drehen musste. Er hielt sich die Hand vor Augen und versuchte, allerdings mit wenig Erfolg, seine Augen an die Helligkeit zu gewöhnen. Dem jungen Krieger schien dies alles überhaupt nichts auszumachen. Ganz im Gegenteil, er lächelte, diesmal scheinbar besonders zufrieden, und kniete sich nieder.
Śantanu gab es auf, die Strahlen durchdringen zu wollen. Es war klar, dass es sich hier um ein Werk der Götter handeln musste. Gern benutzten sie helles Licht, um nicht erkannt zu werden. Höhergestellte Lebewesen behalten es sich verständlicherweise vor, selbst zu entscheiden, wann sie sich einem niederen Lebewesen offenbaren wollen. Dies war nicht nur für Viṣṇu wahr, sondern auch für die Devas und galt selbst für Menschen hier auf der Erde. Dieses Gutdünken ist ein Privileg aller übergeordneten Wesen. Er konnte nicht mehr tun, als geduldig abzuwarten. Entweder würde sich die Gottheit wieder entfernen oder sie würde das Licht so weit dämmen, dass es auch für einen Erdling erträglich war.
Das Letztere war der Fall. Die Strahlen ließen langsam in ihrer Intensität nach und Śantanu konnte nun deutlich erkennen, dass der Jüngling vor einer Göttin kniete. Liebevoll tätschelte sie ihm den Kopf, den er demütig gesenkt hielt. Auch Śantanu kniete nieder, denn es geziemt sich für einen Bewohner der Erde, insbesondere wenn er ein Regent ist, sich vor einem mächtigeren Wesen zu verneigen. Respekt ist das wichtigste Element im Zusammenleben der Lebewesen, und Śantanu beugte gern sein Knie vor jedem Lebewesen, das die Werte der uralten vedischen Kultur lebte und beschützte.
Die Art und Weise, wie die Göttin mit dem Jüngling umging, zeigte, dass die beiden eine enge Beziehung haben mussten. Śantanu konnte zwar das Gesicht der Göttlichen nicht erkennen, doch vermutlich war sie seine Mutter. Seine Mutter? Erst jetzt begriff Śantanu, wer sich hier vor ihm manifestiert haben könnte. Denn da dieser Jüngling seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten war und er folglich der Sohn jener Frau war, die Śantanu immer nur als seine „letzte Frau“ bezeichnet hatte (da er bis heute nicht ihren Namen wusste), dann könnte doch eben jene Frau, die er über alles geliebt hatte, jetzt vor ihm stehen. Dann könnte doch eben jene Göttin, von der er noch immer lediglich Umrisse erkennen konnte, genau jetzt, und genau hier, vor ihm stehen!
Die Göttin schien seine Gedanken zu erraten, denn langsam zog sie ihre gleißende Hülle noch mehr zurück und drehte den Kopf zu ihm. Der Jüngling erhob sich wieder und stellte sich Schulter an Schulter neben das weibliche Wesen. Spätestens jetzt verließen Śantanu die letzten Zweifel an der Beziehung der beiden Personen vor ihm – dies waren Mutter und Sohn. Und mehr noch, dies waren seine letzte Frau und sein Sohn.
Die Ähnlichkeit zwischen der Göttin und dem gottähnlichen Jüngling war frappierend. Es waren die gleichen markanten Gesichtszüge, die so fein und raffiniert abgestimmt wirkten, als hätte sie Viśvakarmā mit höchster Behutsamkeit und vollendeter Genauigkeit eingemeißelt. Es war der gleiche feingliedrige Körperbau, der zwar die Unterschiede von Alter und Geschlecht nicht aufhob, aber doch deutlich die Verwandtschaft erkennen ließ. Obwohl alle Glieder präzise betont waren, so bildete das Werk doch insgesamt eine harmonische, ineinander fließende Einheit.
Es waren die gleichen, nur ganz sacht geschwungenen Augenbrauen und das gleiche wallende, rabenschwarze Haupthaar. Es waren die gleichen geschmeidigen Bewegungen und Gesten und der gleiche leicht federnde, etwas an eine Raubkatze erinnernde Gang. Es war die gleiche zart goldbraune Haut, bei dem Sohn nur um eine Schattierung dunkler, und sich damit dem dunkelbraunen Teint Śantanus annähernd, den Sonne, Wind und Wetter über die Jahre in Śantanus Gesicht eingegraben hatten.
„Nun erhebe dich“, begann die Himmelsgöttin mit einer sanften Stimme zu Śantanu zu sprechen, „du musst vor deiner Frau nicht niederknien.“ Śantanu wurde es abwechselnd heiß und kalt, als ob er unter einem heftigen Fieber litt. Tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf, und in der nächsten Sekunde spürte er überhaupt nichts mehr – weder seine noch immer pitschnasse Kleidung, die auf ihn herabprasselnde Mittagssonne, seine verbrannte Hand, seinen fast bewegungsunfähigen Arm, seinen leeren Magen, seinen vor Verwirrung schreienden Geist noch seine mühsam arbeitende Intelligenz, die versuchte, Ordnung in das Chaos zu bringen. Er war erfüllt von einer einzigen großen Leere, von der er nicht wusste, ob er sie willkommen heißen oder sie verfluchen sollte.
Die Wahl wurde ihm abgenommen. Wie ein Liebhaber, der sich nach einer Nacht bei seiner mit einem anderen Mann verheirateten Geliebten heimlich und geräuschlos auf und davon macht, so stahl sich die Leere unangemeldet davon. Alle Schmerzen meldeten sich im gleichen Moment dienstbeflissen zurück. Sie brachen über ihn herein wie der erste Monsunregen nach der Trockenzeit. Śantanu schwindelte und er wusste nicht mehr, ob er noch bei Sinnen war oder nicht. Sein ganzer Körper zitterte und schwankte.
Er fühlte sich so kraftlos, dass er nicht einmal aufstehen konnte. Noch immer kniete er vor den beiden göttlichen Wesen, die ihn gütig und verständnisvoll anlächelten. Jetzt trat der Knabe an ihn heran, fasst seinen Arm und stützte ihn so, dass er sich mühelos erheben konnte. Doch zu Śantanus Überraschung ging der Knabe nicht zu seiner Mutter zurück, sondern blieb neben ihm stehen, als würde er zu ihm gehören. Mehr noch – als würde er schon immer zu ihm gehören.
Śantanu empfand plötzlich eine tiefe innere Zufriedenheit. Fast hatte er vergessen, wie sich diese Art von Zuversicht anfühlt. Genau genommen war es fast auf den Tag genau zwölf Jahre her, als er das letzte Mal dieses wohlige Gefühl erlebt hatte. Es war an jenem Tag, als ihm sein achter Sohn geboren worden war. Und es war der Tag, an dem ihm dieser Sohn auch wieder genommen wurde.
Der Verlust seines achten Sohnes war noch nicht einmal die einzige Katastrophe an diesem Tag gewesen. Er verlor auch seine Frau, genau jene Frau, die ihm nun wieder gegenüberstand. Sie lächelte nicht minder verführerisch als an jenem Tag, da er sie das erste Mal getroffen hatte. „Mahārāja!“, die Göttin neigte aus Respekt dezent ihr Haupt, als sie sich an den König wandte, „ich freue mich, dass du mich wieder erkennst. Ich hoffe, deiner Familie, deinem Volk und deiner Armee geht es gut und diese Erde erblüht unter deiner Regentschaft. Ich hoffe auch, dass du dich bester Gesundheit erfreust und du in deinem Bemühen, den Kreislauf der Geburten und Tode zu durchbrechen, erfolgreich bist.“
Diese guten Wünsche waren die üblichen Anreden für einen König. Sie bedurften keiner Antwort, und Śantanu hätte auch nicht antworten können. Denn nicht nur unerwartet mit seiner verschwundenen Frau zusammenzutreffen, sondern darüber hinaus auch noch mit seinem tot geglaubten Sohn, war selbst für einen durch viele Krisen gestählten Menschen wie ihn ein bisschen zu viel des Guten.
„Ich freue mich auch“, fuhr die Göttliche fort, „dass du deinen Sohn erkannt hast. Schließlich hattest du ihn bisher nur ...“ Die Erwähnung seines Sohnes, fegte jegliche Starre und Sprachlosigkeit in einem einzigen Augenblick hinweg. Śantanu fuhr ihr, sehr zu seiner eigenen Überraschung und entgegen seinen üblichen Gepflogenheiten, brüsk ins Wort und schleuderte ihr entgegen: „... nur für wenige Sekunden sehen können! Danke, dass du mich an diese schreckliche Tatsache erinnerst. Wie konntest du damals nur so etwas über’s Herz bringen! Wie konntest du nur meinen Sohn verschleppen!
Ich wusste nicht einmal, ob er noch lebt oder ob du ihn genauso getötet hattest wie meine anderen sieben Söhne. Ich weiß bis heute noch nicht einmal, wer du überhaupt bist! Ich weiß noch nicht einmal, wie du überhaupt heißt! Und warum bist du heute gekommen? Willst du dich entschuldigen? Oder willst du mich vielleicht noch einmal quälen? Ist es das, was du vorhast? Willst du mir vielleicht meinen Sohn vorstellen, nur um ihn dann noch einmal aus meinem Herzen zu reißen? Wie konntest du nur so grausam sein! Hast du einmal dabei an mich gedacht? Hast du auch nur ein einziges Mal ...“
Die Worte sprudelten aus Śantanu hervor wie Wasser, das aus einer Höhle herausschießt. Zu lange hatten sich seine Wut und seine Trauer angestaut. Wie hätte er auch dieser Frau verzeihen können, die ihm nacheinander acht Söhne genommen hatte! Seine Tiraden hätten ihn wohl noch eine geraume Weile vor sich her treiben können, wenn nicht der Knabe ihm den Arm auf die Schulter gelegt hätte. Der Jüngling machte mit seinem Kopf eine Bewegung, die wohl andeuten sollte, dass Śantanu sich erst einmal beruhigen und sein Gegenüber auch zu Wort kommen lassen sollte.
Śantanu atmetet schwer, sein Brustkorb hob und senkte sich, und ohne dass er es selbst wahrnahm, stützte er sich auf den Jungen, über den er gerade erfahren hatte, dass er tatsächlich sein Sohn war. Er musste sich zügeln und die Herrschaft über seine Sinne zurück gewinnen. Sonst würde er in seiner Rage nicht einmal hören, geschweige denn verstehen können, was seine einstmals geliebte Frau ihm zu entgegnen wünschte. Diese schien von dem Ausbruch Śantanus völlig unbeeindruckt und lächelte ihn weiterhin gelassen an.
Sie wartete noch einen Augenblick und sprach dann wie folgt: „O Nareśa, o bester unter den Kriegern Hastināpuras, gern werde ich dir auf all deine Fragen antworten. Mein Name ist Gaṅgā, ich bin die Tochter Himavāns und Menās. Meine jüngere Schwester Umā ist die Göttin, die für ewige Zeiten an der Seite Śivas weilt. Da du in einem altehrwürdigen Geschlecht Geburt genommen hast und von den besten Brāhmaṇas erzogen wurdest, muss ich dir nicht weiter ausführen, was meine Stellung in diesem Universum ist.“
Śantanus Zorn schmolz wie Butter in der Sonne. So wie ein Yogi seine Sinne von den Sinnesobjekten zurückzieht, so zogen sich Śantanus Zorn, seine Enttäuschung und seine Verzweiflung von dem Objekt des Anstoßes zurück. Er wurde, wie in alten Zeiten, wieder ganz Ohr, um die Worte seiner Geliebten mit Girlanden zu schmücken. Er wurde wieder ganz Auge, um ihre wunderschöne Gestalt zu trinken. Er wurde wieder ganz Nase, um ihrem betörenden Duft eine prachtvolle Willkommensallee zu bauen. Er wurde wieder ganz Haut und Haar, um ihrer Ausstrahlung einen kostbaren Palast zu errichten. Er wurde wieder ganz Zunge, die, in Vorfreude auf einen baldigen, köstlichen Geschmack, sich wie ein Wildpferd gebärdete, das für Jahre zur Untätigkeit verdammt gewesen war und nun endlich einem vorzüglichen Weidegrund entgegen strebt.
Śantanu hing an den Lippen dieser Frau, die ihn acht Jahre lang auf die schönsten Gipfel der Ekstase geführt, aber auch in die tiefsten Täler des Kummers gestützt hatte. Er wollte alles über sie erfahren, alles über ihre Wünsche, ihre Taten, ihre Herkunft, ihre Beweggründe. Und natürlich wollte er alles über seinen Sohn erfahren. Seine Augen bettelten Gaṅgā an, fortzufahren, und so entfernte sie nacheinander einen Schleier der Verwirrung nach dem anderen.
„Nein, ich bin nicht gekommen, um mich zu entschuldigen. Gern werde ich dir auch berichten, warum ich deine Söhne töten musste, doch solltest du als erstes über deinen achten Sohn hören. Ich weiß, dass die Frage nach dem Verbleib deines jüngsten Sohnes dich am meisten beschäftigt.“ Śantanu konnte nicht umhin, ihr innerlich zuzustimmen. Dies erinnerte ihn daran, dass er auch früher schon davon beeindruckt war, wie seine Hauptkönigin immer seine Gedanken zu erraten schien. Damals hatte er dies einfach als eine liebenswerte Eigenschaft einer liebenswerten Frau angesehen, doch nun dämmerte es ihm, dass dies mehr als nur überdurchschnittliche Intuition war. Die Fähigkeit, die Gedanken eines anderen Menschen lesen zu können, ist vielen Bewohnern der himmlischen Planeten zu Eigen.
„Dies ist dein Sohn“, fuhr Gaṅgā fort und deutete auf den Knaben, der nun einen Schritt zur Seite trat, gerade so, als wolle er dem König erlauben, ihn besser zu mustern. „Sein Name ist Devavrata, denn er erfüllt einen göttlichen Schwur. Du kannst wahrlich stolz auf ihn sein, denn in Bezug auf die Reinheit des Charakters kann sich auf dieser Erde kaum ein anderer mit ihm messen.“
Gaṅgās Blick wanderte jetzt von Śantanu zu ihrem Sohn und ihre Stimme wurde noch etwas weicher und freundlicher. „O König, der du Recht von Unrecht unterscheiden kannst, dein Sohn ist von großen Weisen und von Bṛhaspati persönlich unterrichtet worden. Er ist ein ausgezeichneter Kenner der heiligen Texte, die seit Anbeginn der Schöpfung allen Lebewesen im Universum zur Verfügung stehen. Er kennt die Gesetze dieser Schöpfung wie kaum ein Zweiter. Er ist ein großer Geweihter Śrī Viṣṇus, der unser aller Herr und Beschützer ist, und wird ihn sogar noch in diesem Leben von Angesicht zu Angesicht sehen können.“
Jetzt schaute auch Śantanu auf Devavrata, der sich, angesichts von so viel Lob, offensichtlich etwas unwohl fühlte. Die Szenerie erinnerte an ein typisches Elternpaar, das vor Stolz platzt, da der Sohn alle Erwartungen übertroffen hat. Als Gaṅgā fortfuhr, ruhte ihr Blick weiterhin auf ihrem Sohn, und erst nach ein paar Sätzen wandte sie sich wieder Śantanu zu. „Doch unser Sohn ist nicht nur rein im Herzen und von großer Intelligenz, er ist auch ein wahrer Meister der Kampfkunst. Wisse, o Rājeśa, seine Kampfkunst kennt nicht ihresgleichen, zumindest nicht auf den mittleren Planeten. Er erlernte den Gebrauch verschiedener machtvoller himmlischen Waffen.
Die größten Krieger Svarga-lokas haben ihn ausgebildet, selbst Indra, der oberste Feldherr der himmlischen Welten, übergab ihm einige Waffen. Der Tausendäugige erlaubte mir auch, dir zu offenbaren, dass dein Sohn eines Tages einem der Söhne Indras in einer gewaltigen Schlacht gegenüberstehen wird. Sei unbesorgt, Indrakumāra wird es nicht gelingen, deinen Sohn zu töten. Nur ein von Viṣṇu besonders ermächtigter Kṣatriya wird in der Lage sein, Devavrata je zu besiegen. Wisse, o oberster Souverän der Menschen, diese Seele, die vor vielen Jahren von mir den Namen Devavrata empfing, wird dir und deinem Volk noch viel Freude bereiten.“
Śantanu war überglücklich. Hätte er sich einen besseren Sohn und einen besseren Thronfolger wünschen können? Ein Sohn, der gleichermaßen weise und tugendhaft wie auch mutig und kampferprobt ist! Ein Sohn, der selbst dem Sohn des großen Anführers der Devas Paroli bieten konnte! Und das Wichtigste – ein Sohn, der bei ihm bleiben würde. Ein Sohn, den seine letzte Frau zurück gebracht hatte, denn warum sonst sollte sie wohl gekommen sein. Ein Sohn, der einmal den Thron Hastināpuras erben und den das Volk lieben würde. Fürwahr, das Volk würde diesen Prinzen lieben wie selten einen Königssohn zuvor.
„Ja, du hast recht“, bestätigte ihm Gaṅgā, die wieder einmal seine Gedanken zu lesen schien, „heute werde ich dir unseren Sohn übergeben. Mögest du mit ihm glücklich bis an das Ende deiner Tage leben!“ Śantanu konnte nun nicht mehr länger an sich halten. Er stürzte auf Devavrata zu, er fiel förmlich über ihn her. Er roch an seinem Kopf, drückte ihn, umarmte ihn und strich ihm über das Haar. Er nahm das Gesicht seines Sohnes in seine Hände und küsste ihn auf die Stirn. Heute, so jubelte Śantanu innerlich, war er zweifellos besonders vom Glück begünstigt. Lakśmī war heute sehr großzügig zu ihm.