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Immer wieder umarmte Śantanu seinen Sohn und hätte diesen wohl noch eine ganze Weile weiter geherzt, wenn er nicht bemerkt hätte, dass Devavrata diese Behandlung wesentlich weniger zu genießen schien als er selbst. Der König begriff, dass hier etwas mehr Zurückhaltung angebracht war. Schließlich geziemte sich ungezügelte Leidenschaft für einen Monarchen höchstens auf dem Schlachtfeld.

Ungezwungener, öffentlicher Körperkontakt war unter Zweimalgeborenen unüblich, geschweige denn unter Wesen himmlischen Ursprungs. Auch wenn sich die Bewohner der höheren Welten gern und ausgiebig amourösen Abenteuern hingaben (und manchmal sogar deshalb auf die Erde kamen, um diesen Drängen der Sinne ungestörter nachzukommen, als dies auf ihrem eigenen Planeten möglich war), sind sie doch eher zurückhaltend mit stürmischen Umarmungen.

Gaṅgās Lächeln hatte sich inzwischen eher zu einem hämischen Schmunzeln gewandelt. Sie zog die Schultern etwas hoch und hob die Arme leicht an, als wolle sie ihrem Sohn zurufen: „Habe ich dich nicht gewarnt? Habe ich dir nicht vorhergesagt, dass genau das passieren wird!“ Śantanu notierte sich in seinem Geist gerade, dass sein Sohn keine ausgiebigen Umarmungen mochte, als Devavrata vor ihm niederkniete und mit gesenktem Haupt hauchte „Mein Vater!“ Śantanu lief ein Schauer der Ekstase über den Rücken und seine Haare standen zu Berge. Seine Tränen, die sich mit großer Wucht unaufhaltsam ihren Weg bahnten, verfingen sich glitzernd in Devavratas tiefschwarzen Locken, die genauso betörend dufteten wie die Haare seiner wunderschönen Mutter.

Śantanu hieß seinen Sohn aufzustehen und beide schauten sich liebevoll in die Augen. „Mein Vater!“ wiederholte Devavrata noch einmal, und diesmal lag eher Stolz und Freude in der Stimme, als Demut und Zurückhaltung. „Mein Sohn!“, antwortete Śantanu mit dem gleichen Stolz. Nachdem nun Śantanu sicher sein konnte, dass sein verloren geglaubter Sohn bei ihm bleiben würde, beruhigte sich sein Geist langsam. Allerdings kehrten damit auch seine Schmerzen wieder zurück. Als ob er seinen Vater trösten wolle, legte Devavrata seine Hand auf den Arm des Königs, schloss die Augen und murmelte leise ein Gebet. Doch es ging Devavrata offensichtlich weniger um Trost als um Heilung, denn augenblicklich schwand aller Schmerz aus Śantanus Arm. Dann verfuhr der Prinz auf die gleiche Art mit Śantanus Hand: er umschloss sie mit seinen Händen, murmelte ein Mantra, und schon waren die Verbrennungen an seiner linken Hand verschwunden.

Śantanu schaute erst bewundernd auf seinen Sohn und dann dankbar auf Gaṅgā. Er fragte sich, was sein Sohn wohl noch alles auf den himmlischen Planeten gelernt hatte. „Lass dich überraschen“, ergriff nun Devavrata zum ersten Mal das Wort, „ich habe nicht nur von den Aśvinī-kumāras Wissen über Medizin erhalten. Auch Viśvakarmā hat mich einiges über vastu gelehrt, und ich bin gespannt, ob wir etwas davon in deinem Palast anwenden können.“ Śantanu hörte gar nicht so sehr auf das, was sein Sohn zu ihm sagte, sondern wie er es sagte. Śantanu wollte einfach nur die liebliche Schwingung festhalten, die dieser Stimme innewohnte und in die er sich gern verlor. Der Klang, der aus Devavratas Mund geboren wurde, hatte noch ein wenig die Farbe eines Kindes. Kein Zweifel, dieser Knabe hatte nie spüren müssen, dass er allein gelassen wurde oder gar unerwünscht war.

Und sicherlich hatten seine Eltern niemals die Hand gegen ihn erhoben. Schwächere zu züchtigen, noch dazu seine eigenen Kinder, war in der vedischen Kultur verpönt. Und sollte es dennoch einmal vorkommen, trafen sich die Brāhmaṇas um zu untersuchen, ob die Delinquenten befähigt waren, Kinder aufzuziehen oder mit Untergebenen zusammenzuleben.

Es war üblich, ein Kind in den ersten fünf Lebensjahren nicht einzuschränken. Es konnte seinen Neigungen und Wünschen frei nachgehen und ganz nach eigenem Gutdünken wählen, welchem Zeitvertreib es nachgehen wolle und mit wem. Man vertraute dem Kind, dass es am besten wisse, was es brauchte und wollte, und hielt sich nur bereit, um Verletzungen oder anderen Schaden von ihm abzuwenden. So entwickelten die Kinder einen natürlichen und tief sitzenden Glauben an ihre eigenen Fähigkeiten.

Doch so unbeschwert Devavrata auch war, so schwang doch in seiner Stimme auch das Bestimmende eines Monarchen mit, eines Kṣatriyas, der bereits für sein Recht gekämpft hatte und der es gewohnt war, dass man seine Anweisungen nicht überging. Wahrlich, dieser junge Krieger würde ein großer König werden. Noch nach vielen Generationen würde man über ihn sprechen.

„Nein, mein Sohn“, und damit knüpfte Mahārāja Śantanu an die letzten Worte des Göttersohnes an, „was wir in unserem Palast anwenden können. Was immer mir gehört, das sei auch dein. Was immer ich an Reichtum, Ruhm, Macht und Wissen besitzen mag, das sei auch dein. Ich danke den Göttern, dass sie dich so umsichtig behütet und ausgebildet haben. Jaya Śrī Rāma!“

Śantanu legte beide Hände auf die Schultern seines Sohnes und strahlte ihn an. So wie ein Künstler sein eigenes, in seinen Augen vollkommenes, Kunstwerk bewundert, so betrachtete Śantanu seinen Sohn. Seine Augen konnten sich an diesem kostbaren Schatz gar nicht satt sehen. Doch irdischer Genuss ist immer nur von kurzer Dauer, und so mischte sich in die Hochstimmung des altehrwürdigen Königs ein unerwünschter, da betrüblicher Gedanke.

Nicht nur, dass er volle zwölf Jahre der Gemeinschaft mit seinem Stammhalter verpasst hatte. Dies war er sogar bereit zu vergeben. Aber was war mit den sieben Kindern, die ihm von Gaṅgā schon vorher geraubt worden waren. Und zwar unwiderruflich! Gaṅgā hatte sie allesamt getötet! Das Glück, diese Söhne aufwachsen zu sehen, würde ihm nie gegeben sein. Nie würde er mit ihnen jagen und trainieren können, nie würde er mit ihnen kämpfen und lachen können. Nie würde er sie in den Pflichten eines Königs unterweisen und niemals würde er mit ihnen die Huldigungen des Volkes entgegennehmen können.

So wie ein fernes, noch leises Grollen sich zu einem gewaltigen Donner steigert, wenn dem Unwetter etwas Zeit gegeben wird, sich zu nähern, so schwoll Śantanus Wut unaufhaltsam an und sein dankbarer Blick auf Gaṅgā wandelte sich in eine wilde visuelle Attacke. Hätten seine Blicke töten können, wäre die Göttin auf der Stelle zu Asche verbrannt. Doch Viṣṇu sein Dank war er kein Brāhmaṇa. Gaṅgā stand ihm noch immer völlig unversehrt gegenüber und lächelte mild, so, wie sie es immer zu tun pflegte.

„Nun, großer König, ich verstehe deinen Zorn“, begann diese wunderschöne Frau unvermittelt zu ihm zu sprechen, „ich denke, du hast ein Recht, die ganze Wahrheit zu erfahren. Denn du magst dich fragen, warum ich unsere ersten sieben Söhne im Fluss ertränkte, und warum nicht ebenfalls den achten. Und warum brachte ich dir ausgerechnet diesen Sohn wieder zurück? Nun, wäre es nach einigen Göttern gegangen, hätte ich Devavrata tatsächlich nicht mit mir nehmen dürfen. Alle liebten ihn und hätten ihn gern noch weiter bei sich in den himmlischen Welten gesehen.“

Gaṅgā schaute jetzt auf den Jüngling, als sie fortfuhr. „Besonders die Aśvinīs hatten einen Narren an ihm gefressen. Doch auch die Götter können das Rad der Zeit nicht aufhalten. Auch sie müssen sich dem Griff von Kāla, der alles beherrschenden Zeit, beugen und den Dingen ihren Lauf lassen. Der Fluch, der auf unserem Sohn lastet, muss sich erfüllen. Das Karma eines jeden Lebewesens erfüllt sich unerbittlich und letztendlich kann nur Viṣṇu selbst veranlassen, dass es geändert wird.“ Devavrata senkte beschämt den Kopf, offensichtlich war er auf einige seiner früheren Handlungen nicht sehr stolz.

„Doch Viṣṇu sah offenbar keine Veranlassung, in den Fluch eines Brāhmaṇas einzugreifen. Insbesondere weil Vasiṣṭha nicht irgendein Brāhmaṇa ist, sondern einer der größten Heiligen des Universums. Jeder...“, und Gaṅgā schaute tadelnd auf ihren Sohn, der den Kopf immer noch gesenkt hielt und diese Belehrung wohl nicht zum ersten Mal hörte. „... jeder, wirklich jeder, sollte wissen, dass man einen solchen Sādhu nicht verärgert, geschweige denn ihm etwas stiehlt!“

Śantanu zweifelte, ob er gerade richtig verstanden hätte. Sein Sohn hatte dem berühmten, dem geradezu legendären Vasiṣṭha etwas gestohlen? Seine Neugier loderte wie ein Feuer, das unersättlich jede Opferung verschlingt. Aber er wagte es nicht, nachzufragen. Das letzte Mal, da er Gaṅgā in ihren Handlungen unterbrochen hatte und so kühn gewesen war, Kritik zu üben, endete mit einem Desaster – nämlich mit ihrem Verschwinden. Er konnte nur hoffen, dass sie, freiwillig, ganz aus eigenem Antrieb, alle Einzelheiten dieser Geschichte offenbaren würde.

„Wir alle wissen, dass Viṣṇu eher Vergehen gegen sich selbst verzeihen kann, als Vergehen gegen seine Geweihten“, fuhr die Göttin, nun wieder in einem milderen Tonfall, fort. „Gegen den Fluch eines Vaiṣṇavas gibt es kein Gegenmittel! Es sei denn, man erlangt die Gunst eines anderen Vaiṣṇavas.“ 

Gaṅgā machte eine Pause und schaute nun wieder direkt auf Śantanu. „Rājeśa, wie ich dir schon offenbart habe, bin ich Gaṅgā, die heiligste aller Gewässer. Auf den himmlischen Planeten kennt man mich als Mandākinī und hier auf deinem Planeten als Gaṅgā, Divya, Bhāgīrathī, Tripathagā und Jāhnavī. Einst entsprang ich den Lotosfüßen Śrī Vāmanas, der verehrungswürdigen Form Viṣṇus als kleiner, charmanter Brāhmaṇa, dem man einfach nichts abschlagen kann. Mit seinem lotosgleichen großen Zeh durchdrang er die Hüllen dieses Universums. Das überaus glückverheißende Wasser aus dem Ozean der Ursachen nahm  seinen Weg in diesen Teil der Schöpfung und segnete auf diese Weise alle Lebewesen. Daraufhin baten mich die Devas, die Gottheit dieses Flusses zu werden.“

Jede Pore von Śantanus Körper schrie Verwunderung oder Zweifel. Seine ehemalige Königin, die er geliebt hatte wie niemals jemanden zuvor und niemals jemanden danach, hieß nicht nur Gaṅgā, sondern war auch die Gaṅgā? In Person? Eben jener berühmte Fluss, den er und seine Vorfahren seit unvordenklichen Zeiten in Ehren halten? Es schien tatsächlich wahr zu sein. Mutter Gaṅgā, der täglich Millionen von Lebewesen in allen Teilen des Universums ihre Ehrerbietungen darbringen, war einst seine Frau gewesen! Gaṅgā, deren Wasser selbst die größten der Götter, ja selbst Brahmā, Śiva und Viṣṇu dankbar entgegennehmen und sich an ihm laben, hatte mit ihm jahrelang Bett und Tisch und Krone geteilt.

Diese segenspendende Gottheit war also für acht Jahre seine Frau gewesen! „Meine Frau! Gaṅgā war meine Frau!“, dachte Śantanu stolz. „Was muss ich in der Vergangenheit für fromme Handlungen ausgeführt haben, dass ich solch ein unverdientes Glück genießen durfte?“ Weniger denn je konnte er den Blick von Gaṅgā abwenden. Erst, als sich ihr gütiges Lächeln in ein sichtbares Lachen steigerte, folgte er ihrem Blick hin zu seinem Sohn. Dieser schien sich mal wieder köstlich zu amüsieren. Sein Augenzwinkern schien zu sagen: „Wahrlich, liebe Mutter, du hast trefflich vorhergesagt, was für ein dummes Gesicht mein Vater machen würde, wenn er die Wahrheit erfährt.“ In diesem Moment bemerkte Śantanu, dass sein Mund wohl schon eine geraume Zeit offen stand und er keinen besonders intelligenten Gesichtsausdruck aufgelegt hatte. Doch es blieb ihm wenig Zeit, sich über diese lästige Angewohnheit zu ärgern, denn Gaṅgā fuhr fort.

„Nun, ich gebe dir Recht, du hattest die Reaktionen auf viele fromme Handlungen angesammelt. Und das Karma von soviel puṇya hat dir im letzten Leben einen Platz auf den himmlischen Planeten beschert.“ Devavrata kicherte, da Śantanus Mund schon wieder offen stand. Nach einem mahnenden Blick seiner Mutter beherrschte er sich aber sofort wieder.

„O Rājeśvara, dein Name im letzten Leben war Mahāviśa, und als du mich eines Tages auf den himmlischen Planeten erblicktest, war es um dich geschehen. Du begehrtest meine Gemeinschaft mit jeder Faser deines Körpers, und dies war einer der Gründe, warum du ausgewählt wurdest, mein Ehemann zu werden. Allerdings herrschen auch in den himmlischen Welten die Gesetze der materiellen Natur. Auch in Svarga-loka trägt übermäßige Anhaftung an die Objekte des Sinnesgenusses immer auch Schwierigkeiten mit sich. So kam es, dass du nicht nur gesegnet, sondern auch verflucht wurdest.

Der Spruch gebot, dass du auf der Erde Geburt nehmen musstest. Als Mensch galt es ein Leben auf der Erde zu verbringen. Das war der Fluch. Die Segnung lag andererseits darin, dass du mich ehelichen durftest. Auch ich musste auf die Erde kommen, und dies ebenfalls aufgrund eines Fluches.“ Śantanu lauschte gebannt den lieblich dahin plätschernden Worten Gaṅgās, die aber nicht nur wohlklingend, sondern ebenso lehrreich und bedeutungsschwer waren. Es blieb ihm allerdings trotzdem nicht verborgen, dass Devavrata plötzlich sehr still wurde und wieder sein beschämtes Gesicht aufsetzte.

Śantanu hatte immer noch Mühe, all die neuen Informationen zu ordnen. Also: die Frau, die für viele Jahre an seiner Seite weilte und ihm einst acht Söhne gebar, hieß Gaṅgā. Sie hieß aber nicht nur Gaṅgā, sie war es auch persönlich. Der Jüngling zu seiner Rechten war ihr gemeinsamer Sohn, der jetzt bei ihm auf der Erde bleiben würde. Nein, der auf der Erde bleiben musste, weil er dazu verflucht war. Und Gaṅgā war irgendwie auch Teil dieses Fluches? Und er selbst hatte Gaṅgā auf den himmlischen Planeten getroffen und sich schon dort in sie verliebt?

Der alte König ahnte, dass sich hinter diesen Offenbarungen noch weitere Geschichten verbargen. Was ihn betraf, so war er bereit, noch mehr zu hören. Er war sicher, dass heute noch einiges Unerwartetes stattfinden würde. Aber er war sich auch sicher, dass er morgen rückblickend sagen würde, dass heute ein guter Tag gewesen war.

 
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