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Matsyarāja schaute sich um. Hinter ihm brodelnde, laute Menschenmassen, rechts von ihm  Bhīṣma und Diviratha, die sich noch immer aufgeregt unterhielten; links von ihm seine Tochter, deren hübsches Gesicht durch den Sari kaum zu sehen war, und vor ihm der riesige Palast des Kaisers, der ihm niemals zuvor so gewaltig und ehrgebietend erschienen war. 
Er wusste, dass er von Tausenden Augenpaaren beobachtet und abgeschätzt wurde, doch störte ihn das nicht.
 
Was kümmerten ihn die Torwächter, das Volk auf den Straßen oder die Menschen, die wahrscheinlich aus einigen Fenstern des Palastes auf ihn herabschauten und sich fragten, wer dieser unangenehm riechende und in zerschlissene Kleidung gehüllte fremde Mann wohl sei. Ihm waren momentan nur drei Menschen wichtig: seine Tochter, der Königssohn und der König. Der Rest der Welt war ohne große Bedeutung.
 
Erst jetzt bemerkte Matsyarāja, dass viele Zweifel von ihm abfielen. Ohne dass er es sich noch bis vor kurzem selbst eingestanden hätte, musste er zugeben, dass er seit dem Versprechen Bhīṣmas bis zur Ankunft vor dem großen Tor unterbewusst daran gezweifelt hatte, ob Bhīṣma seinen Schwur tatsächlich einhalten würde. Zwar waren Kṣatriyas dafür bekannt, dass sie großen Wert darauf legten, ihre Versprechen einzuhalten, doch die Eide des Königssohnes gingen weit über das übliche Maß hinaus. 
 
Konnte und wollte Gaṅgās Sohn tatsächlich zu seinen ungewöhnlichen Gelübden stehen? Es schien so, wahrlich, es schien, als sei der Prinz in seinem Tatendrang nicht aufzuhalten. Soeben hatte der Sohn Śantanus sein Gespräch beendet und stellte sich zwei Schritte vor ihnen auf die andere Seite Satyavatīs, so dass die junge Frau zwischen den beiden Männern stand. Während er eine einladende Handbewegung machte, lächelte er so schelmisch und ungezwungen, dass er in diesem Moment mehr an spitzbübisches Kind erinnerte als an den größten Krieger Hastināpuras.
 
Der Gang in die berühmte Versammlungshalle der Kuru-Dynastie konnte beginnen. Matsyarāja wurde vollkommen ruhig und ausgeglichen. Was sollte jetzt noch seine Tochter davon trennen, Mahārāja Śantanu zu heiraten? Es sei denn, Śantanu würde unerwartet von seiner Heiratsabsicht wieder abrücken. Aber diese Möglichkeit hielt der Fischer für ausgeschlossen. Solch ein übles Spiel würden die Götter mit ihm und seiner Tochter nicht spielen. Und vor allem nicht mit Bhīṣma.
 
„Nun denn“, frohlockte der Fischer, „auf in das Innere des sagenumwobenen Palastes des Kaisers.“ Matsyarāja wusste schon erstaunlich viel über die sieben Tore und die Verteidigungsanlagen auf dem riesigen Gelände. Ein ṛṣi hatte vor vielen Jahren einmal auf seiner Insel übernachtet und ihm einiges verraten. Nun war Matsyarāja gespannt, alles mit eigenen Augen zu sehen. Es würde sicherlich Wochen dauern, alle Einzelheiten zu ergründen und mit den vielen verschiedenen Menschen, die sich auf dem Gelände aufhielten, zu sprechen. Aber er hatte Zeit, viel Zeit. Als ihm dann auch noch einfiel, dass er niemand Geringerer als der Vater der Kaiserin war und anders als ein gewöhnlicher Gast sich überall auf dem Gelände würde frei bewegen können, erschien ein breites, zufriedenes Lächeln auf seinem Gesicht.
 
Er war so in Gedanken vertieft, dass er fast vergessen hätte, sich auf dem Gelände zwischen erstem und zweitem Tor umzuschauen, das er bereits zur Hälfte durchschritten hatte. Hier befanden sich die Stallungen für die wichtigsten Pferde und die Hallen für die wichtigsten Streitwagen. Wenn er seinen Kopf nach rechts wandte, sah er, wie ratharāja, nur die beiden Kutscher tragend, langsam zu seinem Unterstand rollte. Für die Wartung der Wagen und für die Pflege der Pferde waren verschiedene Handwerker und Pferdeburschen zuständig, die neben den Stallungen wohnten. Außerdem gab es einen Wassergraben, der aber nicht sehr tief war, da er nicht der Verteidigung, sondern eher der Genesung der Pferde diente, deren Krankheiten manchmal mit kalten Ergüssen oder Wassertreten behandelt wurden.  
 
Aśtra nannte der Volksmund diesen äußersten Gürtel des Palastgeländes, was eine Kurzform für Aśvakṣetra war – das Feld der Pferde. Da es kaum Gras oder Bäume gab, war der Boden sandig-lehmig und es lag immer ein wenig Staub in der Luft, da den ganzen Tag über Krieger über das weitläufige Gelände preschten. Hier pflegten die Reiter oft ihre Pferde zuzureiten und hier pflegten auch die Wagenbauer und Wagenlenker ihre neuesten Gespanne zu testen. Es wurde nicht erwartet, dass die Nutzer des Aśtras im Falle eines Überfalls große Verteidigungsanstrengungen unternehmen würden. Sie sollten lediglich Krach schlagen und den schnellen Hunden, die frei umhertrollten und dazu abgerichtet waren, bei Gefahr sofort zu den hinteren Toren zu rennen, das entsprechende Alarmzeichen geben. 
 
Aśtra endete an der größten und dicksten von allen Mauern, die rund um den Palast errichtet worden waren. Sie war aus massivem Stein gebaut und fast zwei Armlängen dick. Ihre imposante Höhe von gut vier Mannslängen ergab sich zum einen aus ihrer Aufgabe, umherstreuende Tiere abzuhalten, und zum anderen dadurch, die Bewohner und Nutzer des Palastgeländes vor allzu neugierigen Blicken zu schützen.
 
Um die Mauer etwas weniger bedrohlich wirken zu lassen und um den Künstlern der Stadt einen Ort der Übung und Bewunderung zu bieten, hatte es sich über die Jahrhunderte eingebürgert, dass das Mauerwerk über die gesamte Länge mit Bildern, Zeichnungen oder Versen bemalt wurde. Inzwischen war es mehr geworden als nur ein Wettstreit um Kreativität und Kunstfertigkeit. Schön längst ging es nicht mehr nur darum, wer die schönsten Bilder zeichnen konnte. Es war mindestens genauso wichtig, die richtigen Farben zu benutzen. 
 
Richtig in diesem Zusammenhang bedeutete möglichst witterungsbeständig. Außerhalb der Regenzeit waren die größten Feinde natürlich die Sonne und der Staub, der sich überall niederließ. Und wenn der Monsun einsetzte, galt es eine Farbe zu finden, die den Wassermassen möglichst lange standhielt. Manche Maler hatten es schon geschafft, dass ihr Bild noch nach zehn Regenzeiten zu sehen war. Natürlich verriet keiner von ihnen die Rezeptur, mit der er versuchte, dem Zahn der Zeit entgegen zu wirken und das Verblassen seines Werkes zu verzögern. 
 
Bewacht wurden sowohl das zweite Tor, das immer noch breit genug war, dass zwei Wagen nebeneinander hindurch fahren konnten, wie auch das dritte von Bogenschützen. Ihnen gehörte auch das Areal zwischen dem zweiten und dem dritten Tor und daher war es als Dhanurdeśa (oder kurz Dheśa) bekannt – als das Land der Bogenschützen. Hier übten die Bogenschützen zu Fuß, zu Pferde oder auf Streitwagen. Hier trainierten sie ihre Treffsicherheit, ihre Geschicklichkeit und ihre Körperkräfte. Hier wohnten auch einige Schnitzer, Gerber und Bogenmacher. 
 
Dheśa endete am dritten Tor, das als letztes Tor nach oben hin offen war. Die zu diesem Tor gehörige Mauer war wesentlich niedriger als ihre Vorgängerin, gerade einmal zwei Manneslängen, dafür aber so breit, dass sich auf ihr die Bogenschützen postieren und, durch Türme und Schießscharten gedeckt, etwaigen Angreifern lange Stand halten konnten.
 
In kleinen Nischen befanden sich Lampen, in denen Tag und Nacht ein mildes Feuer loderte, denn im Fall eines zu befürchtenden Verlustes dieser Verteidigungslinie musste es den Bogenschützen gelingen, den Palast oder, falls notwendig, sogar die ganze Stadt zu warnen. Daher beherrschte jeder der Bogenschützen einen Schuss, mit dem er mit einem brennenden Pfeil eine Scheibe aus Stroh treffen konnte, die weit entfernt an einem bestimmten Balkon des Palastes hing und die dann wiederum einen Strohhaufen in Brand setzen würde. Dieses hoch oben brennende Fanal war von allen vier Stadttoren aus sichtbar und würde sofort den Befehl zur allgemeinen Mobilmachung auslösen.
 
Während das dritte Tor noch ausreichend Platz für einen Streitwagen bot, war das vierte Tor schon so eng, dass nur ein schmales Gefährt sich noch hindurch schlängeln konnte (keinesfalls also beispielsweise ein solch riesiger Wagen wie ratharāja). Hier war das größte Areal von allen, hier war Hasti-loka, das Gebiet der Elefanten und ihrer Reiter und Dresseure.
 
Haslo, wie es alle nannten, glich, genau wie Aśtra, einer fast völlig gras- und pflanzenlosen  Steppe, denn wo diese Kolosse ihre tonnenschweren Körper hinsetzten, hatte kaum eine Pflanze die Chance zu überleben. In den Stallungen befanden sich sowohl Kriegs- wie auch Arbeitselefanten. Da die Dickhäuter im Falle eines Angriffs zu den äußeren Mauern eilen sollten, waren die Tore nach außen alle nach oben hin offen. Das vierte Tor dagegen war, wie auch die Tore fünf und sechs, oben mit einer gewaltigen zwiebelförmigen Kuppel abgeschlossen und so niedrig, dass ein ausgewachsener Elefant schon hätte in die Knie gehen und seinen Kopf hätte ducken müssen, um hindurchzugelangen. 
 
Vor dem vierten Tor befand sich der zweite Wassergraben, der mit einer guten Manneslänge schon etwas tiefer war als bei den Pferden. Allerdings hatte er eher deshalb eine Verteidigungsaufgabe, weil er sehr breit und der Untergrund sehr schlammig war. Für einen Streitwagen war ein Weiterkommen hier unmöglich. Der Wassergraben erfüllte darüber hinaus die wichtige Funktion, den Elefanten, zu denen sich öfters auch gern Pferde und Menschen gesellten, Möglichkeiten für ein kühles Bad zu geben.
 
Manchmal hatten einige Künstler versucht, auch die vierte Mauer zu bemalen, aber die Bilder hielten selten länger als ein paar Tage, denn der Wall wurde von den Elefanten gern dafür benutzt, sich an ihm zu reiben, um damit dem lästigen Juckreiz zu entfliehen. Matsyarāja sah aber hier und da noch ein paar Restspuren von Farbe an der Mauer und mit einem Lächeln betrachtete er zwei Elefanten, die sich anscheinend erst vor kurzem an der Wand gerieben hatten, denn ihre Hinterteile wiesen deutliche Spuren von roter und grüner Farbe auf.
 
Bhīṣma schritt schnellen und sicheren Schrittes dem fünften Tor zu, das den letzten bedeutenden Verteidigungswall vervollständigte. Das Besondere hier war, dass die Mauer nicht nur sehr breit war und sich unzählige Schießscharten, Katapulte, Lanzen- und Raketenwaffen auf ihr befanden, sondern dass sie sich selbst auf einem sanft aufsteigenden Hügel in luftiger Höhe befand. Matsyarāja hatte wenig Zeit, sich diese architektonische Meisterleistung genauer anzusehen, denn ohne von irgendjemandem aufgehalten zu werden, durchschritt er mit Bhīṣma und Satyavatī auch dieses Tor. Er bemerkte lediglich, dass auch seine Tochter sehr genau die Umgebung prüfte und sich anscheinend ebenso bemühte wie er, möglichst viele Eindrücke zu sammeln.
 
Kaum hatten sie das Tor hinter sich und kaum waren die Dankes- und Siegesrufe der Wachen verklungen, da traten sie in eine völlig andere Welt ein. Bis zu dem fünften Tor gab es zwar auch viel zu bestaunen, und Matsyarāja war sich jetzt noch sicherer, dass ihn die Erkundung des Geländes viele Wochen beschäftigen würde, doch war bisher alles sehr übersichtlich und bei aller Vorzüglichkeit sehr funktionell, bisweilen nüchtern gewesen. Doch jetzt schien es, als würden sie die himmlischen Planeten betreten. Ein leuchtendes Panorama an bunten Farben, Gerüchen, Formen und Klängen umfing sie und versprühte einen atemberaubenden Zauber. Ein angenehmer Duft lag in der Luft, der sich vermutlich aus Blumen, Früchten und Räucherwerk speiste. Vögel zwitscherten melodisch, Springbrunnen plätscherten gelangweilt vor sich hin, um sich im nächsten Moment prahlerisch zu hohen Fontänen aufzuschwingen. Pfaue, Schwäne, Kraniche und Papageien waren zu hören und zu sehen, Rehe beäugten neugierig die Besucher und seltsam kleine Pferde jagten sich gegenseitig in völlig furchtlosem Übermut. 
 
Besonders fielen Matsyarāja natürlich auch die Seen und anderen Wasserreservoirs auf und er freute sich schon darauf, die verschiedenen Wasserlebewesen, von denen er sicher erst nur einige wenige kannte, zu entdecken und zu beobachten. Der Gast des Kaisers sah auf den Rändern der Brunnen Frösche und Salamander sitzen, die sich wohlig in der Sonne aalten. Er sah Eichhörnchen, die Walnüsse schleppten, die so groß wie Mangos waren. Er sah auch viele Bäume, Blumen, Sträucher und Tiere, die er noch nicht kannte.
 
Inmitten der kunstvoll angelegten Wege und Hecken sah er vereinzelte Pavillons, die manchmal nach oben geschlossen und manchmal auch offen waren. Er sah überdachte Schreine der Götter, die mit frischen Blumengirlanden bekränzt waren, er sah einen Gärtner, der einen Mangobaum pflanzte, er sah Bedienstete in hellblauem Livree, die Wege und Bänke säuberten, und er sah auch, etwas weiter entfernt, zwei ṛṣis unter einem Banyanbaum sitzen, die anscheinend in das Studium der heiligen Texte vertieft waren.
 
Matsyarāja war so abgelenkt, dass er seine Tochter fast umgerannt hätte. Fast hätte er nicht bemerkt, dass sie angehalten und sich nach unten gebeugt hatte. Sie hob ein weißes, wolliges Etwas vom Boden auf, das genau vor ihr auf dem Weg verharrte und das Bhīṣma unbeachtet links liegen gelassen hatte. Für einen Hasen war es zu groß, auch wenn es das Gesicht dieses Nagers hatte. Von der Statur her hätte es ein Wolf sein können, doch war dieses Wesen dafür viel zu anschmiegsam. Was immer es war, Satyavatī setzte es an den Wegesrand und trippelte schnell weiter, um Bhīṣma wieder einzuholen.
 
Der Weg vor ihnen folgte einer leichten Biegung erst nach rechts, dann wieder nach links, bis sich vor ihnen ein paar Stufen erhoben. Rechts und links der Stufen waren verschieden farbige Terrassen angelegt, von denen sich das Wasser in fröhlichen Kaskaden nach unten ergoss.
Auf jeder zweiten der achtzehn Stufen standen auf beiden Seiten der Treppe Palastwachen, so dass sich Matsyarāja fühlte, als würden sie für ihn Spalier stehen. 
 
Er schaute auf Bhīṣma, der weiterhin, ohne sich irgendwo aufzuhalten, voranschritt und gerade den Gruß der Wachen kurz erwiderte. Dann schaute der Fischer auf seine Tochter, die jetzt die Gelegenheit, dass alle anhielten, nutzte, sich zu ihm umzudrehen. Doch noch bevor er in das Gesicht Satyavatīs blicken konnte, fielen ihm die geröteten und geschundenen Füße an seiner Tochter auf. Erst jetzt wurde ihm klar, dass sie die einzige von ihnen war, die barfuss lief. Ihr Gesicht war etwas verschwitzt, kein Wunder, Bhīṣma hatte ein zügiges Tempo vorgelegt. Aber er sah auch, dass sie glücklich war. Fürwahr, dieses zufriedene Lächeln hatte er bei ihr schon lange nicht mehr gesehen. 
 
Es ging weiter. Sie hatten nun wieder Marmor unter den Füßen, denn sie gingen durch eine Art Vorhof vor der Tür zum Palast. Es war eine zwar bedachte, aber nach beiden Seiten offene Säulenhalle, deren Boden mit braunem und weißem Marmor ausgelegt war und auf der auf beiden Seiten jeweils achtzehn tiefrote Säulen aus glitzerndem Marmor standen. Auf dem Boden befanden sich einige Mandalas und jede zweite Säule war mit einer bunten Zeichnung versehen. Matsyarāja fiel auf, dass ihn, kaum dass er den Fuß auf den Marmor gesetzt hatte, eine angenehme Kühle willkommen hieß, die nicht nur an den Füßen, sondern am ganzen Körper zu spüren war. Auch das Stimmengewirr der vielen Tiere und das Plätschern des Springbrunnens wurden dezent gedämpft.
 
Dass sie inzwischen wieder durch ein Spalier von Palastwachen schritten, deutete daraufhin, dass es bis zum sechsten Tor nicht mehr weit sein konnte. Und auch die vielen Stimmen, die er hörte, verrieten ihm, dass er am Brāhmaṇa-dvāra, dem Tor der Brāhmaṇas, angekommen war. Hier saßen links von der Tür die Brāhmaṇas, die meditierten, Schriften lasen oder diskutierten und rechts von der Tür Frauen, die Blumengirlanden knüpften, Kosmetika herstellten und Kleider nähten. Da die mūrtis auf dem Hauptaltar des Palastes teilweise größer als Menschen waren, konnte Matsyarāja allerdings nicht erkennen, ob die Frauen diese Kleidung für Viṣṇu und die Devas anfertigten oder für Bewohner des Palastes, die zur menschlichen Gattung gehörten.
 
Das sechste Tor war das schmalste von allen. Es war kaum so breit, dass zwei Männer nebeneinander hindurch gehen konnten. Daher war es auch am leichtesten zu verteidigen, wenngleich diese Vorsichtsmaßnahme nicht notwendig war. Die Brāhmaṇas und Yogis, die sich hier aufhielten, besaßen soviel göttliche Macht, dass selbst der zehnköpfige Rākṣasa Rāvaṇa seine Mühe gehabt hätte, ungebeten dieses Tor zu durchschreiten. Ihre brahma-tejas glichen der Stärke Vasiṣṭhas und übertrafen die Fähigkeiten selbst eines Indra, ganz zu schweigen von der Kampfeskraft irdischer Könige.
 
Matsyarāja schaute zurück. Einige der Wachen schauten den dreien neugierig hinterher. Der Fischer fragte sich, ob es jemals schon irgendeinem Lebewesen gelungen war, alle Verteidigungslinien zu durchbrechen und bis zum Thron Hastinās vorzudringen. Sicherlich hatten es einige schon versucht, aber ihm war nicht bekannt, dass es einem Tier, einem Menschen, einem Rākṣasa, Yakṣa, Nāga, Deva oder einem anderen Lebewesen jemals gelungen wäre. 
 
Der braun-weiße Marmorboden war inzwischen in ein strahlendes Weiß übergegangen, das lediglich von ein paar golden schimmernden Adern unregelmäßig unterbrochen wurde. Das Tor öffnete sich wie von Zauberhand bewegt und gab den Blick in das Innere frei. Matsyarāja sah weder jemanden, der das Tor aufgestoßen, noch jemanden, der es von innen aufgezogen haben konnte. Aus den Augenwinkeln sah er aber noch, wie einer der Brāhmaṇas etwas leise vor sich hin gemurmelt hatte. Er glaubte auch eine mūdra, eine Handgeste, bei dem Brāhmaṇa beobachtet zu haben. Doch es blieb keine Zeit für lange Überlegungen. Bhīṣma und Satyavatī folgend, setzte er die ersten Schritte in den Palast Mahārāja Śantanus. 
 
Er betrat nun das Haus jenes Mannes, der ihn in seinem eigenen Haus, besser gesagt, seiner windigen Hütte, vor einigen Tagen aufgesucht hatte. Jeder Vater hätte zweifellos Bhagavān, den Göttern, dem Schicksal, den Lebewesen, dem Karma, der Zeit und weiß Viṣṇu noch wem gedankt, wenn Śantanu sein Haus betritt, noch dazu, um um die Hand seiner Tochter anzuhalten. Doch der Fischer musste den König abweisen, denn sein Wort der Liebe auf dem Totenbett seiner Frau band ihn. Dieses Wort band ihn und es band seine Tochter. 
 
In den letzten Jahren hatte er dieses Versprechen immer öfter als schwere Last empfunden und er hatte zu zweifeln begonnen, ob sein Zögern, und das damit verbundene leidige Einsiedlerdasein seiner Tochter, noch dem entsprach, was sich seine Frau einst vorgestellt hatte, als sie ihm den Schwur abnötigte. Doch tatsächlich schien sich heute nun endlich der Wunsch seiner geliebten Frau zu erfüllen.
 
Bhīṣma hielt ein paar Schritte hinter dem Tor an und drehte sich zu Vater und Tochter um. Er musterte die beiden eine Weile, bevor er zu ihnen sprach. „Ist alles in Ordnung?“, fragte er,  ohne wirklich eine Antwort zu erwarten. Und zu Matsyarāja gewandt, fuhr er fort: „Ich hoffe, die Fahrt hat euch nicht zu sehr angestrengt. Wenn ihr wollt, könnt ihr ein Bad nehmen, oder etwas essen, oder euch ausruhen. Äußert bitte eure Wünsche, zögert nicht. Es soll euch an nichts fehlen.“
 
Bhīṣma schaute nicht auf Satyavatī, sondern ausschließlich auf Matsyarāja. Der Fischer wusste warum, und so wuchs seine Hochachtung vor dem Sohn Gaṅgās nur noch mehr. „Wir sind deine Gäste“, begann Matsyarāja zu antworten, nachdem er seine Hände gefaltet und sich leicht verbeugt hatte, „wir sind von dir in dieses ehrenwerte Haus eingeladen worden und begehren nichts anderes, als dir zu dienen. Der Anblick all der großen Seelen, die diese Gemäuer beschützen, hat uns von jeglichem Hunger und Durst befreit. Der seltene Stein, auf dem wir gingen, hat mit seiner angenehmen Kühle alle Müdigkeit vertrieben. Wir sind begierig, deinen Vater, unseren König, der die Tradition unserer Ahnen in höchster Vollendung fortsetzt, bald zu sehen. 
 
Wenn es also auch in deinem Interesse ist, dann lass uns nicht verweilen. Lass uns den tugendhaften und unbezwungenen Herrscher Hastināpuras, das Juwel der Kuru-Dynastie, aufsuchen und uns vor dem würdigen Nachfolger des großen Bhārata verbeugen.“ Bhīṣma lächelte zufrieden. Die Sitten der Gastfreundschaft geboten es, jeden Gast wie eine Gottheit zu verehren und ihm jeden Wunsch zu erfüllen. Dass Matsyarāja, obwohl er sicher durstig, hungrig und müde war, sich nicht weiter aufhalten wollte, kam dem Prinzen sehr gelegen, denn er wollte seinen Vater nicht weiter warten lassen.
 
„So sei es denn“, verkündete Bhīṣma den Beschluss, „so lasst uns eilen. Der Kaiser ist unterrichtet und erwartet uns schon. Dies ist ein großer Tag für uns alle. Viṣṇu sei gepriesen, dass er uns alle zusammen geführt hat. Du, Matsyarāja, wirst heute eine deiner wichtigsten Pflichten als Vater erfüllt sehen und auch ich werde eine heilige Pflicht erfüllen. Ich werde mich als würdiger Sohn erweisen und den Fußspuren des vorbildlichen Śrī Rāmacandra folgen. Heute kann ich meinem Vater etwas von den Schmerzen nehmen, die er durch die Trennung von mir erfahren hat.
 
O bester unter den Fischessern, für deine Tochter beginnt mit dem heutigen Tag die wichtigste Zeit ihres Lebens. Sie wird nicht nur Pflichten an der Seite ihres Mannes zu erfüllen haben, sie wird an der Seite des Kaisers stehen und es wird sich eine große Verantwortung auf ihre Schultern senken. Doch ich weiß, dass du ihr jederzeit beistehen wirst. Sie wird sicher manchmal deiner Hilfe bedürfen, denn die Irrungen und Wirrungen des Daseins auf diesem Planeten sind vielfältig und bisweilen schmerzhaft.
 
Aber auch ich werde unter allen Umständen zu euch stehen. Macht euch keine Sorgen, so lange ihr unter meinem Protektorat weilt, muss euch keine Gefahr ängstigen. Doch werdet ihr meines Schutzes nicht einmal bedürfen, denn der Souverän dieser Erde, der unbezwingbare Herrscher Hastinās, der ehrenwerte Mahārāja Śantanu, wird euch in gleicher Weise beschirmen wie Brahmā das Universum. Seine Gunst wird euch aller Furcht entledigen.“
 
Bhīṣma lächelte über das ganze Gesicht. Er schien sich völlig sicher zu sein, dass sein Plan gelingen würde. Seine Zuversicht und Gelassenheit waren unerschütterlich und steckten auch seine zwei Begleiter an. Satyavatī erinnerte sich deshalb an einen Satz, den ihr Vater mindestens einmal täglich benutzte und der ihr in Fleisch und Blut übergegangen war: „Alles wird – und so ist es gut!“ Matsyarāja dachte genau an den gleichen Satz, denn er war zu seinem Lebensmotto geworden. Und plötzlich sah er auch das Gesicht jenes Heiligen vor sich, der ihm diese Weisheit einst gelehrt hatte. In seiner Kindheit war er Prabhupādadeśa begegnet, einem brahmarṣi, den er ein paar Tage vor dem Tode seiner Frau getroffen hatte. Ja, es war nicht zu widerlegen: „Alles wird – und so ist es gut!“
 
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