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Dieses Rāmāyaṇa (wörtlich: Der Weg Rāmas) wird nun zum ersten Mal in einer textkritischen, kommentierten und ungekürzten Form in deutscher Sprache präsentiert. Die wenigen deutschen Ausgaben, auf die ich bei meinen Literaturrecherchen gestoßen bin, sind alle unkommentiert oder geben nur einen geringen Teil des originalen Textes wieder.
Die anspruchsvolle Sprache (Sanskrit), der gigantische Umfang des Werkes (rund 24.000 Verse), eine Kultur aus längst vergangenen Zeiten, mitunter altertümlich anmutende Wertvorstellungen, weitestgehend unbekannte Religionen und manch anderes, was dem Leser des Rāmāyaṇas befremdlich erscheinen mag, all dies hat es bisher schwer gemacht, die vielen Facetten dieses Werkes adäquat und ungekürzt zu beleuchten.
Während dem englischsprachigen Leser bereits sehr ausführliche Übersetzungen und fundierte Kommentare zur Verfügung stehen, die ihm einen umfassenden Einblick in die Tiefen des Rāmāyaṇas gewähren, sind diese Aspekte des Rāmāyaṇas dem deutschsprachigen Leser bisher bei weitem nicht in gleichem Ausmaße zugänglich. Sprachlich, kulturell und hinsichtlich des religiösen Verständnisses dieser alten indischen Hochkultur hat das Rāmāyaṇa dem interessierten Leser aber sehr viel mehr zu bieten, als es in den bisherigen deutschsprachigen Ausgaben zum Ausdruck kam.
Auch wenn das Rāmāyaṇa seit mehr als zwei Jahrhunderten in Deutschland bekannt ist, liegen noch immer viele Aspekte dieses Klassikers im Dunkeln. Baumgartner schrieb schon 1894:
Ist auch Zeit und Ursprung der beiden Gedichte [Mahābhārata und Rāmāyaṇa] noch in unsicheres Dunkel gehüllt, so kann doch kein Zweifel sein, dass die ihnen zu Grunde liegenden Sagen über den Umfang unserer Zeitrechnung hinaus in ein beträchtlich hohes Alterthum zurückreichen und dass sie bei einem der zahlreichsten Völker der Erde bis heute ihre lebendige Anziehungskraft unverändert bewahrt haben. Beide sind durch ganz Indien volksthümlich geworden und geblieben und haben auf das gesamte Geistesleben einen entscheidenden Einfluß ausgeübt; beide sind über den Himalaya hinaus in die Thäler von Kashmir gedrungen und ostwärts bis in die Sunda-Inseln. Das Mahābhārata hat dabei den Vorzug, dass es die größte Masse alter Sagen, Dichtungen und Ueberlieferungen verschiedener Epochen in sich schließt; das Rāmāyana aber ist kunstvoller abgerundet, hat fruchtbarer auf die spätere Literatur eingewirkt und ist als Ganzes auch volksthümlicher geworden.